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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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sich die Leichen. Spindeldürre Frauen stolperten zur Newa, um durch die ins Eis gehauenen Löcher Wasser heraufzuziehen. Da Elias’ Sehkraft nachließ, versuchte er die zerfallende Welt zu begreifen, indem er die Ohren spitzte. Was für Geräusche nahm er wahr? Das Knirschen der mit Leichen beladenen Schlitten. Gewaltige Explosionen, wenn mit Dynamit Gruben für Massengräber gesprengt wurden. Das Heulen streunender Hunde und Katzen, hingemetzelt von Leningradern, die dringend Fleisch brauchten.
    Vor allem aber hörte er den rasselnden Atem seiner Mutter in der eisigen Wohnung. Oft blieb er vor der Tür stehen, vom langen Anstieg erschöpft, und lauschte, voller Angst, in seiner Abwesenheit könne ihr Herz aufgehört haben zu schlagen. Doch dann hörte er sie atmen, heiser, unregelmäßig, die Dunkelheit zersägend. Und ihre Stimme, aus dem Haufen mottenzerfressener Wolle auf ihrem Bett heraus, drang ebenfalls an sein Ohr. »Karl Elias? Bist du es?«
    Manchmal, wenn er noch einen Funken Energie verspürte, machte er einen Scherz. Nein, sagte er dann, er sei der Feinkostlieferant, der Dorschleberpastete und Preiselbeersauce bringe. Beim ersten Mal hatte seine Mutter gelacht – das erste Lachen seit langer Zeit. Doch je weniger Fleisch sie auf den Knochen hatte, umso trüber wurde ihrVerstand, und bald hörte sie gar nicht mehr, was er sagte. Sie fragte nur wieder und wieder nach Essen. Dabei gab es nie etwas anderes als Suppe, auf dem kleinen ölbetriebenen Herd gekocht, oft aus grauem Kohl und Wasser bestehend. Der Gestank der harten Blätter war unerträglich, er drang in Wände und Bettzeug ein, und wenn Elias sich in seinen Kleidern schlafen legte, roch er ihn in seinen Haaren und ihm wurde schlecht.
    »Das schmeckt ja komisch«, krächzte seine Mutter. »Hast du es so gemacht, wie ich es dir gezeigt habe?«
    »Ja, Mutter«, sagte Elias und löffelte ihr Kohlwasser in den Mund.
    »Du musst das Fleisch immer gleichzeitig mit den Zwiebeln hineingeben. Das ist der Trick, damit der Geschmack sich entfaltet.«
    Inzwischen gingen sie nicht mehr in den Keller, wenn die Sirenen ertönten; sie hätte es nicht geschafft, und ihm war es einerlei. Sie blieben einfach, wo sie waren, Frau Eliasberg in ihrem Bett und Elias auf einem Stuhl neben ihr. Auch nur ein paar hundert Meter zu laufen, um für Lebensmittel anzustehen oder Wasser zu kaufen, schien eine nicht zu bewältigende Aufgabe.
    An einem Tag, als die Temperatur unter minus fünfundzwanzig Grad gefallen war und die Luft vor Kälte knisterte, stolperte er die Treppe hinunter und klopfte bei den Schaprans an die Tür.
    »Wer ist da?« Olgas Stimme klang argwöhnisch. In einer Stadt, in der man für ein kleines Stück Brot zusammengeschlagen und beraubt werden konnte, war es besser, niemandem zu trauen.
    Die Kälte hatte sich auch in seinem Mund eingenistet und lähmte seine Zunge. Er machte ein paar Versuche, bevor er etwas herausbrachte. »Ich bin’s, Karl Elias.«
    Olga öffnete die Tür einen Spaltbreit und verschanzte sich dahinter wie ein misstrauischer Beamter, der jeden Moment die Schranke schließt.
    »Ich wollte Sie um einen Gefallen bitten.« Er sprach ganz langsam. Am Morgen war er kurz bewusstlos geworden, und er hatte ein tiefes ominöses Summen in den Ohren.
    »Natürlich. Warum sonst würde dieser Tage jemand an die Tür klopfen?«
    Elias zog sich die Mütze tiefer über die Ohren. »Ich wollte fragen, ob Sie mir wohl etwas Speck oder Sonnenblumenöl borgen könnten? Ich habe alles, was wir hatten, meiner Mutter gegeben, und ich glaube, ich bin kurz vor dem Zusammenbrechen. Ein kleines bisschen Protein würde mir helfen, zur Brotschlange zu kommen.«
    Olga starrte ihn ausdruckslos an.
    »Ich konnte nicht umhin zu bemerken«, wagte Elias sich vor, »dass Sie und Herr Schapran –« Sein Verstand funktionierte so schlecht wie seine Zunge; er wusste nicht, wie er es taktvoll formulieren sollte. »Sie sehen gesünder aus als die meisten Leute. Deshalb dachte ich, Sie sind vielleicht in der Lage, mir ein bisschen Öl zu borgen – ich verspreche Ihnen, dass ich es mit meiner nächsten Lebensmittelkarte zurückgebe.«
    Olga errötete und packte die Türkante. Ihre Hand war dünner als früher, aber keineswegs nur Haut und Knochen. »Was wollen Sie damit andeuten? Glauben Sie, wir betrügen das System? Benutzen gefälschte Lebensmittelkarten?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    »Oder glauben Sie vielleicht, wir sind Kannibalen?« Ihre Augen waren voller

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