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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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und ihn gebeten, Leningrad zu verlassen. »Wenn Sie ein offizielles Gesuch stellen, werfe ich mein ganzes Gewicht in die Waagschale – falls das etwas nützt«, schrieb er mit typischer Selbstironie und Naivität. »Sie können hier in Kuibyschew bei uns wohnen. Bis dahin schicke ich Ihnen ein wenig Kaffee.« Der Brief war ohne den Kaffee angekommen. Nikolai bewahrte die hingekritzelte Nachricht in seiner Hemdtasche auf, das Knistern des Blatts Papier war seltsam tröstlich. Aber er dachte keine Sekunde daran, die Stadt tatsächlich zu verlassen.
    Die Menschen um ihn herum bewegten sich wie Schlafwandler. Manche schleppten in Laken gehüllte Leichen zu bereits vollen Friedhöfen, rollten sie vor den Toren von den Schlitten und ließen sie dort liegen, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er kam an einem unbebauten Grundstück mit halb unter Schnee begrabenen Leichenhaufen vorbei. Ziemlich ungerührt betrachtete er die vom Frost schwarzen Gesichter, die steifen ausgestreckten Arme. Er fühlte im Moment wenig außer einer verbissenen Entschlossenheit, den Frühling zu überstehen, weil er dann wieder anfangen konnte, nach Sonja zu suchen.
    Auf dem Sennaja-Markt standen Frauen vor einer Wand und lasen die Aushänge in der Hoffnung, Porzellan, Besteck,Schmuck – alles, was einmal kostbar gewesen und jetzt wertlos war – gegen Reis, Öl und geräucherten Speck zu tauschen. Die meisten Aushänge waren Wochen alt, zerfleddert und kaum noch entzifferbar. Irgendwo dazwischen musste auch Tanjas Angebot hängen: die Zinnsoldatensammlung ihres Vaters gegen Kaffeeersatz.
    »Behalt sie«, hatte er gesagt, als sie zum ersten Mal von diesem Opfer sprach. »Vielleicht hast du eines Tages Söhne.« Er zweifelte daran – Tanja hatte schon immer die etwas bissige Art einer alten Jungfer gehabt und schien alle Männer für Idioten zu halten –, doch manchmal geschahen ja kleine Wunder.
    »Es ist eine bedeutende Sammlung«, sagte sie ein wenig eingeschnappt. »Papa hat es geschafft, ganze Regimenter zusammenzustellen, angefangen beim napoleonischen Krieg.«
    »Na schön, wenn du unbedingt willst, dann tausch sie eben ein«, sagte Nikolai, obwohl allgemein bekannt war, dass selbst Konzertflügel für wenig mehr als ein paar Scheiben Schwarzbrot gehandelt wurden. Ihm war bewusst, dass Tanjas Vorhaben mehr bedeutete, als einen Familienschatz für ein Pfund getrocknete Linsen herzugeben. Seit dem Tag, als er sie mit dem Cello auf frischer Tat ertappt hatte, war sie anders geworden: nervös, schuldbewusst. Oft versuchte sie, Nikolai etwas von ihren Rationen abzugeben – einen halben Löffel Zucker, eine Scheibe Brot –, als könnte sie damit jenen Moment wiedergutmachen, da sie gebrüllt hatte, Sonja sei für immer verloren. Nun war das Cello, in Zeitungspapier und eine alte Decke gewickelt, irgendwo versteckt, wo Tanja es niemals finden würde. Die Bewohner Leningrads hackten ihre Möbel zu Kleinholz und verbrannten ihre Bücher, um sich warm zu halten – Nikolai würde eher ins Grab gehen, als irgendjemandem zu verraten, wo das Storioni lag.
    Er ging weiter, am Marktplatz vorbei. Vor ihm zog eine ältere Frau einen Schlitten, auf dem ein halb bewusstloser,in sich zusammengesackter alter Mann lag. »Die Eisstraße wird uns retten«, sagte sie über die Schulter hinweg. Sie rutschte auf die Knie, kam wieder hoch und schleppte sich weiter. »Die Eisstraße wird uns alle retten.«
    Nikolai hielt den Blick zur Orientierung auf die Schlittenspuren gerichtet. Von der Eisstraße hatte Tanja ihm erzählt, die wiederum im Krankenhaus davon gehört hatte. Sobald der Ladogasee fest zugefroren war, würden Lastwagenkonvois ihn mit einiger Regelmäßigkeit überqueren können und der sterbenden Stadt Lebensmittel und Benzin bringen. »Und dann«, hatte Tanja gesagt, so bestimmt, als wäre es eine Tatsache, »wird sich die Lage dramatisch verbessern. Schließlich hatte niemand mit einer Belagerung gerechnet. Die Behörden wurden davon überrumpelt. Aber sobald der See zugefroren ist, wird alles wieder reibungslos funktionieren.«
    Nikolai war davon weniger überzeugt. Gewiss, man hatte mit Getreide beladene Flachwagen gesehen, die durch die verwaisten Bahnhöfe fuhren. Aber er hatte auch gehört, dass deutsche Piloten Leuchtmunition über dem See abwarfen, um die russischen Konvois sichtbar zu machen und dann zu bombardieren. Und die Eisdecke des Sees blieb trügerisch, solange unter dem Gewicht der Dreitonner noch Risse entstanden. Schneestürme

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