Dirigent
mit angemessen souveräner Miene zu betreten.
Das Treffen war in weniger als zehn Minuten zu Ende. Die schwere Tür knallte zu, und Elias befand sich unter einem bleiernen Himmel wieder auf der Straße. Doch ausnahmsweise nahm er seine Umgebung kaum wahr, als er durch Dreck und Schneematsch pflügte und den halb unter Schnee begrabenen Leichen auswich.
Durch den abgenutzten Handschuhstoff hindurch grub er sich die Fingernägel in die Handflächen. Nur wenn er sich Schmerz zufügte, konnte er glauben, dass er wach war und wirklich gehört hatte, was er gehört zu haben meinte. »Was sagt man dazu!«, wiederholte er ein ums andere Mal. »Was sagt man dazu!«
Oben am Newski-Prospekt war sein kurzer Ausbruch nervöser Energie schon wieder vorbei. Als er am Gribojedow-Kanalangekommen war, musste er sich ein paar Minuten ausruhen, und vor der Militärkantine gaben seine Beine vollends nach. Schwer atmend und mit gesenktem Kopf hielt er sich am Geländer fest. Er wusste, dass er nicht zu lange stehen bleiben durfte, weil er sonst alles Gefühl in Händen und Füßen verlieren und gar nicht mehr würde weitergehen können.
»Karl Elias? Sind Sie es?«
Die Stimme kam ihm vertraut vor, doch er konnte sie nicht sofort zuordnen. Hustend hob er den Kopf und blickte in die blassen wässrigen Augen von Alexander, seinem ehemaligen ersten Oboisten.
»Mein Gott, ich erkenne Sie kaum wieder«, sagte Alexander. »Sie waren ja schon immer eher dünn, aber jetzt ...« Er verstummte, als wollte er Elias nicht kränken, obwohl ihm das eigentlich gar nicht ähnlich sah. Auch Alexander hatte sich verändert: Sein Haar war akkurat geschnitten, und unter dem geflickten Ledermantel trug er eine Uniform.
»Sind Sie jetzt beim Militär?« Elias hatte in den vergangenen sechs Monaten nichts von Alexander gehört. Seit dem Tag, als er betrunken aus dem Probenraum gestürmt war, hatte niemand mehr von ihm gesprochen, sei es aus Takt oder aus Mangel an Informationen.
»Ja, bei der Flugabwehr. Und Sie? Sie sehen ganz erschossen aus, wenn Sie mir diesen momentan allzu sinnfälligen Ausdruck verzeihen.«
»Ich bin übermüdet, das ist alles«, sagte Elias in dem Versuch, seine Würde wiederzuerlangen. »Ich war den ganzen Vormittag in der Parteizentrale, in Rundfunk-k-k-komitee-Angelegenheiten.« Plötzlich begann er heftig zu zittern, und vor seinen Augen verschwamm alles. Alexander war nur noch ein langer, dünner Streifen vor undeutlichem Hintergrund.
»Bleiben Sie hier«, sagte Alexander und marschierte davon.
Elias blieb ohnehin nicht viel anderes übrig. Er hielt sich mit Mühe aufrecht, indem er das Zaungeländer des Militärgeländes umklammerte; das gefrorene Eisen brannte sich durch seine Handschuhe und versengte ihm die Finger. Man hat dir gerade eine Zukunft gegeben , ermahnte er sich. Doch in diesem sonderbaren Moment, da ihm sein Körper den Dienst versagte und sein Verstand sich benebelte, schien das nicht länger wichtig oder überhaupt wahr zu sein.
Dann spürte er, wie seine rechte Hand vom Zaun genommen und um eine Blechtasse gelegt wurde. »Bohnensuppe aus der Kantine.« Es war Alexander. »Ziemlich ekelhaft, aber vielleicht hilft es.«
Die Wärme allein genügte, um ihn wieder halbwegs lebendig zu machen. Schweigend und gierig trank er die wässrige Suppe, klaubte die Bohnen mit den Fingern heraus und stopfte sie sich in den Mund. Als er fertig war, atmete er tief durch. »Danke«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben mir gerade das Leben gerettet.«
»Nicht der Rede wert. Hier, nehmen Sie.« Alexander warf einen Blick zur Kantine und steckte Elias etwas in die Tasche. »Wenn mich jemand dabei erwischt, verliere ich meine eigenen Brotrationen.« Elias wollte ihm erneut danken, doch Alexander winkte ab. »Sonst wären Sie ja zusammengebrochen. Und wahrscheinlich nie wieder aufgestanden, so mager, wie Sie aussehen.«
Elias ging nicht darauf ein. Er hatte wieder Gefühl in Händen und Füßen, und die Erleichterung stieg ihm in den Kopf, weitete sein Herz – und stimmte ihn versöhnlich. »Ich nehme nicht an ...«, begann er. »Es gibt wohl keine Chance, dass Sie wieder ins Orchester zurückkommen, oder? Ich könnte eine Dienstbefreiung für Sie erwirken.«
»Zum Rundfunkorchester?« Alexander sah ihn ungläubig an. »Ich dachte, das sei erledigt. Ende. Kaputt.«
Sollte er es ihm erzählen? Man hatte es ihm nicht ausdrücklichverboten. »Das Orchester hat Befehl, sich wieder zusammenzufinden«, platzte er heraus. »Das
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