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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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brachten Fahrzeuge vom Kurs ab, sodass die Fahrer sich verirrten und erfroren. Die Lebensmittelrationen werden vielleicht langsam größer , dachte er. Aber nicht schnell genug, um uns zu retten . Die Stadt, von schwarzem Rauch eingehüllt, lag in Trümmern, und die Menschen trotteten zu Hunderten auf ihren Tod zu.
    Kurz vor der Trotzki-Brücke kam ihm ein altes Paar entgegen, er hörte die Frau keuchen und den Mann aus tiefster Lunge husten und schenkte ihnen dennoch keinen zweiten Blick. Erschrocken machte er sich bewusst, wie sehr er sich verändert hatte: welche Gnadenlosigkeit ihnin diesen höllischen Wintermonaten antrieb. Es hatte etwas mit seiner Trauer zu tun, obgleich es eine vollkommen andere Trauer war als diejenige, die ihm neun Jahre zuvor den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Sonja mochte als vermisst gelten, doch bis sie nicht offiziell für tot erklärt war, würde er kämpfen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er gelernt, zuerst an sich selbst zu denken – paradoxerweise durch die Liebe zu jemand anderem.
    Schon war die kleine Menge Energie, die das Brot ihm gespendet hatte, verbraucht. Vor ihm verlor sich die Brücke im wirbelnden Nebel, so unüberwindlich wie der steilste Berg. Er verbot sich den Gedanken an Tanjas Brot, das in der Innentasche seines Mantels steckte. Es gehörte ihm nicht, es war nicht essbar, er war nicht kurz vor dem Verhungern.
    Bis zu dem Pfahl oben auf der Brücke , sagte er sich, dann suchst du dir das nächste Ziel.
    Im Näherkommen erkannte er, dass das, was er für einen Laternenpfahl gehalten hatte, die dunkle Gestalt eines Mannes war. Und noch ein paar Schritte weiter sah er den Mann gegen das Geländer fallen und zu Boden rutschen.
    Er schlich im Schneckentempo voran; seine Beine wollten sich nicht schneller bewegen, sein Gehirn erlaubte ihm nicht, es auch nur zu versuchen. Als er endlich den höchsten Punkt der Brücke erreicht hatte, blieb er stehen und blickte hinunter.
    »Geht es Ihnen nicht gut?« Selbst das Sprechen fiel ihm schwer, seine Lippen waren steif wie Bretter.
    Das Gesicht des Mannes war mit Blasen übersät, und er rollte mit den Augen. Als er den Mund öffnete, sah Nikolai sein blutendes Zahnfleisch und die rötlich gefleckten Zähne. »Ich – sterbe«, krächzte der Mann. »Hilfe.«
    Nikolai sah ihn einige Sekunden lang an. Schließlich bückte er sich mit großer Mühe und zog den Mann auf dieFüße. Er war leichter als Sonja, und seine fleckigen Handgelenke waren so dünn wie der Hals einer Geige.
    »Stehen.« Das war alles, was Nikolai herausbrachte. »Stehen.«
    Doch der Mann sackte erneut gegen das Brückengeländer und glitt auf den matschigen Boden. Sein Gesicht hatte den gleichen Stich ins Limonengrünliche wie der mit Schnee beladene Himmel.
    Der Atem des gefrorenen Wassers stieg nach oben und drang durch die Sohlen von Nikolais Stiefeln. Lebensgefährlich, mörderisch kalt breitete er sich in seinen Beinen aus und füllte sie mit einem heftigen stählernen Schmerz. »Es tut mir leid.« Er beugte sich zu dem Mann vor. »Ich kann nichts tun.«
    »Nicht gehen.« Mit einer wunden blutenden Hand packte der Mann seinen Knöchel. »Bitte nicht gehen.«
    Nikolai blieb noch eine Sekunde stehen. Dann befreite er seinen Stiefel aus dem schwachen Griff des Mannes und wich einen Schritt zurück. »Ich muss.«
    Ohne sich noch einmal umzublicken, trottete er weiter. In dem eisigen Wind tränten ihm die Augen, bis er kaum noch sah, wo er hintrat.
Der Auftrag
    Er hatte nicht mehr in Erinnerung gehabt, wie viele Treppen es waren – und so steile Treppen noch dazu. Er zählte die Stufen bis zum ersten Absatz. Schon von der Straße bis zur Haustür waren es sechs gewesen, weitere vier bis zum Schiebefenster; jetzt zitterten ihm die Knie.
    Er ignorierte den versteinerten Blick des Pförtners und stützte sich auf das Sims. »Ich bin Karl Iljitsch Eliasberg«, verkündete er. »Vom Rundfunkorchester.«
    Die Erinnerung daran, wer er einmal gewesen war, verlieh ihm vorübergehend Kraft, und wie ein Kind, das Treppensteigen lernt, machte er sich auf den Weg nachoben. Rechter Fuß, linker Fuß, beide Füße auf einer Stufe, weiter. Schnaufend erreichte er endlich die Doppeltüren mit dem Messinggriff. Daneben stand noch derselbe Stuhl mit der abblätternden Farbe und der geraden Lehne. Er hatte noch nie so einladend ausgesehen.
    Elias saß dort dreißig Minuten lang, dann vierzig, dann fünfzig. Die Sitzfläche drückte schmerzhaft gegen sein

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