Dirigent
Steißbein. Er verlagerte das Gewicht und verfluchte die Angewohnheit der Partei, ihre Lakaien warten zu lassen.
Nach einer Stunde oder einer Ewigkeit erschien der Sekretär. »Hier entlang.« Ohne zu lächeln, führte er Elias in das Vorzimmer. Hier waren die Stühle immerhin ein bisschen bequemer, schien die ganze Einrichtung weniger deprimierend. Das Gebäude selbst war von Bomben schwer beschädigt, die Fassade bröckelte, viele Stufen der Außentreppe waren zerbrochen. Doch die Eingangshalle – sauber, freudlos, ohne jeden Charakter – sah genauso aus wie vor dem Krieg. Und im Vorzimmer gab es einen Teppich, an den hohen Fenstern hingen Gardinen, an den Wänden Bilder.
Hier war die Luft klebrig, fast überheizt. Elias wischte sich den Schweiß von der Stirn und schnüffelte kurz besorgt unter seinen Armen. Er legte Wert darauf, sich wenigstens einmal in der Woche zu waschen, doch da es keine Seife und wenig Wasser gab, hatte er auf eine Mischung aus Asche und Sand von der Straße zurückgegriffen. Ich schrubbe mich mit dem Schutt meiner Stadt , dachte er – doch es schien wichtig, solche Rituale fortzusetzen, wie inadäquat sie auch sein mochten. Nikolai, der schon ungepflegt ausgesehen hatte, bevor seine Tochter vermisst wurde, war inzwischen völlig verwahrlost, während Elias sich weiterhin jeden zweiten Tag rasierte, mit einer trockenen stumpfen Klinge, die außer den Haaren ziemlich viel Haut abschabte.
Nachdem der Sekretär zum zweiten Mal aus dem Büro gekommen war und ihn angewiesen hatte, noch weiter zuwarten, war er es leid. Die wöchentliche Fleischration hatte aus Schafsmagen bestanden, die er in einem abgelegenen Warenhaus entdeckt und zu einem ekelhaften Gelee verarbeitet hatte. Es war vollkommen unverdaulich, und sein Magen knurrte laut. Mit einiger Schärfe wies er darauf hin, dass es mittlerweile weit nach Mittag sei.
Der Sekretär runzelte die Stirn. Genosse Sagorski sei schon vor dem Krieg ein vielbeschäftigter Mann gewesen, und nun sei er beschäftigter denn je. Karl Eliasberg würde hereingerufen werden, sobald dringendere Angelegenheiten geregelt seien.
Wie, bitte schön, schaffte es der Kultusminister, beschäftigt zu sein, fragte sich Elias? Die Stadt war zerstört, die Menschen starben, und das einzige verbliebene Kulturinstitut war das Musical-Theater, das den ausdrücklichen Befehl hatte, zum Wohl der Soldaten mit seiner Tollerei weiterzumachen. Vielleicht hatte Sagorski ja damit zu tun, sich in ferne Angelegenheiten einzumischen und der Oper sowie dem Ballett zu sagen, was sie proben sollten, solange sie im Ural im Exil waren.
»Mein Termin«, sagte er zu dem Sekretär, während sein Magen unheilvoll grummelte, »war um zehn Uhr.«
»Ein Zehn-Uhr-Termin garantiert nicht, dass man auch um zehn Uhr dran ist«, erwiderte der Sekretär ungnädig. Er zog seine Uniformjacke zurecht und schnippte eingebildete Haare vom Ärmel, bevor er wieder verschwand.
Aber wenn ich erst jetzt aufgetaucht wäre , dachte Elias, hätte man mich wegen meiner Verspätung fortgeschickt .
Je weiter die Zeiger der Uhr vorrückten, desto nervöser wurde er. Abgesehen davon, dass Jascha Babuschkin ebenfalls an dem Treffen teilnehmen würde, hatte man ihm nichts gesagt. Was, um Himmels willen, mochte der Leiter des Rundfunkkomitees vier Monate nach der Auflösung des Orchesters mit ihm zu besprechen haben? Konnte ein Dirigent einer nicht existierenden Position enthoben werden? Konnte man ihm ein Orchester wegnehmen,das gar nicht mehr zusammen spielte? Zum hundertsten Mal putzte er sich die Brille und versuchte sich davon abzuhalten, an seinen gespaltenen vergilbten Fingernägeln zu kauen.
Wie ein Springteufel tauchte der Sekretär wieder auf. »Die Genossen Sagorski und Babuschkin sind jetzt bereit, Sie zu empfangen.«
Elias sprang auf und merkte zu spät, dass er kein Blut in den Füßen hatte. Er stürzte zu Boden und wäre beinahe auf den blank polierten Schuhen des Sekretärs gelandet. »’tschuldigung«, murmelte er, stand auf und schob sich die Brille wieder auf die Nase. »Mein Kr-Kr-Kreislauf ist nicht mehr das, was er einmal war.«
Der Sekretär war darin geübt, kein Mitgefühl zu zeigen, egal, was passierte. »Bitte beeilen Sie sich. Wir dürfen unsere geschätzten Genossen nicht warten lassen.«
»Nein, gewiss. Noch mehr Zeit zu vergeuden wäre unverzeihlich«, sagte Elias bissig. Trotz seiner prickelnden Füße und der an seiner Hose klebenden Teppichfasern gelang es ihm, das Heiligtum
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