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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Kulturministerium plant eine Saison sinfonischer Konzerte, um die Moral in der Stadt zu heben – und wir sollen sie durchführen.« Er empfand die gleiche Kombination aus Euphorie und Angst wie zuvor, als er vor Sagorskis Schreibtisch gestanden hatte. »Ich habe keine Ahnung, wie viele unserer Musiker noch am Leben sind, aber ich würde mich freuen, Sie wieder im Boot zu haben, wenn Sie denn kommen möchten.«
    Ein Lächeln huschte über Alexanders Gesicht. »Verstehe. Selbst Trunkenbolde und Dreckskerle sind besser als tote Musiker.« Doch er sagte es nicht mit Häme. Vielleicht, dachte Elias, war das so etwas Ähnliches wie ein Schuldeingeständnis? »Aber selbst wenn mir die Arbeit bei der Artillerie nicht gefiele«, fuhr Alexander fort, »was nicht der Fall ist, könnte ich nie und nimmer mehr erster Oboist sein.« Er zog den Handschuh aus und zeigte Elias seine rechte Hand. Alle Finger außer dem Daumen fehlten, und der Handrücken war ein geschwollener Klumpen glänzender Haut. »Ein Granatenangriff im Dezember. Aber mit den Geschützen kann ich noch umgehen.«
    »Das tut mir sehr leid.« Elias schluckte schwer. »Und für das Orchester ist es höchst bedauerlich. Ich habe das Gefühl, wir könnten Sie dringend brauchen.« Er wartete, bis Alexander sich den Handschuh wieder angezogen hatte, und schüttelte ihm dann etwas linkisch die Hand. Im Weggehen spürte er das Brot, das Alexander für ihn gestohlen hatte, schwer in seiner Tasche. Er drehte sich noch einmal um. »Ach, übrigens«, sagte er, »wie geht es Ihrer Schwester?«
    »Meiner Schwester? Ich habe kei–«
    »Sie hatte doch letztes Jahr Diphtherie. Oder war es eine andere Krankheit mit D?«
    Alexander schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ach so, die Schwester. Sie werden es kaum glauben,aber sie hat sich wie durch ein Wunder erholt. Sie ist bei bester Gesundheit. Das heißt – natürlich hungert sie wie wir alle. Ist sehr dünn, kann nicht oft aus dem Haus gehen.« Er musterte Elias. »Sie schlauer Fuchs! Sie wissen doch Bescheid!«
    Elias lächelte leise. »Bestellen Sie ihr schöne Grüße.«
Nach dem Schnee
    Nikolai strich mit der Hand über die eiskalte Wand und blickte zur Decke hoch. In einer Ecke war ein Stahlträger durchs Dach gekracht, sodass man ein zersplittertes Stück Himmel sah. Die Fenster waren entweder gesprungen oder kaputt, sodass die kühlen Frühlingswinde von allen Seiten hereinpfiffen. »Erwarten sie wirklich von uns, dass wir hier proben? Und das aufführen? Haben die sich überhaupt die Übertragung aus Kuibyschew angehört?«
    Auch Elias war von dem Zustand des Raumes entsetzt. »Vielleicht können sie ihn ja ein wenig für uns heizen«, sagte er, um angesichts der überwältigenden Aufgabe, mit der man ihn betraut hatte, nicht in Panik zu geraten, sondern sich auf die praktischen Fragen zu konzentrieren. Es war ihm gelungen, neben seiner bewusstlos im Bett liegenden Mutter kauernd, mit seinem ramponierten Radiogerät die Uraufführung der Siebenten Sinfonie zu empfangen. Über eine Stunde lang hatte er sich kaum bewegt, hatte das Knacken und Knistern weggefiltert und sich zu der Musik darunter vorgekämpft. Sein Gehirn hatte jeden Auftakt und jede ersterbende Phrase absorbiert, seine Hand sehnte sich danach, einen Taktstock zu ergreifen. »Es hat mir gefehlt«, gestand er seiner Mutter, deren Atem rasselte. »Oh, Gott, wie sehr es mir gefehlt hat.« Und dann: » Er hat mir gefehlt.«
    Nikolai sah besorgt aus. »Es ist Schostakowitschs bislang gewaltigste Sinfonie. Die müssen verrückt sein. Wasglauben die, wer Sie sind – ein Zauberer?« Er blickte während des Sprechens über die Schulter, eine Parodie der Vorsicht aus der Zeit vor dem Krieg. Aber sie waren allein. Die Tür hing nur noch in einer Angel, und der mit Glas und welken Blättern übersäte Flur war leer. »Ich glaube, es ist dieser verfluchte Politkommissar. Wenn wir es schaffen, die Siebente zu spielen, befördern wir nicht nur Leningrads Moral, sondern Shdanows Karriere noch obendrein.«
    »Shdanow hat sich schon die Partitur beschafft. Sie wurde letzte Woche aus Moskau eingeflogen.«
    »Über die Linien der Nazis?« Nikolai hob die Augenbrauen. »Dann muss es ihm tatsächlich ernst sein.«
    »Es ist gar kein Gegenstand der Diskussion mehr. Es war schon beschlossene Sache, bevor ich den Fuß ins Parteibüro gesetzt hatte.« Elias sprach ganz sachlich, doch seit er von seiner neuen Aufgabe in Kenntnis gesetzt worden war, hatte er jede Nacht

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