Dirigent
gar nicht mehr vom Fleck bewegen. Sie stand da wie ein Esel, die Füße störrisch gegen das schmutzige Pflaster gestemmt. »Ich geh nicht weg, das sag ich dir«, wiederholte sie und stampfte mit einem Fuß auf. Außer auf der Bühne hatte Nikolai das noch nie jemanden tun sehen, und er war erstaunt, wie viel Wut darin zum Ausdruck kam. Es wirkte nicht im Entferntesten theatralisch, sondern eher, als ob Sonjas weißglühende Wut einen Ableiter brauchte und sich, wie ein Blitz, den nächsten Gegenstand dafür gesucht hätte.
»Sonja, das hast du nicht zu entscheiden.« Es klang strenger, als er es in Anbetracht seines kläglichen Zustands – verschwitztes Hemd, klitschnasse Haare, sinkender Mut – erwartet hatte. »Du bist ein Kind, und Kinder treffenin solchen Dingen keine Entscheidungen. Das haben schon andere für dich getan –« Er zögerte. »Die Leningrader Behörden. Der Stabschef und der Chef des Generalstabs und die Armee-Oberen und der Führer der Partei – und, na ja, alle wichtigen Leute, die du dir vorstellen kannst.« Er hoffte, dass es autoritär genug klang, um weitere Auseinandersetzungen zu unterbinden. Wenn ihm herausrutschte, dass er, schon bevor die geplanten Evakuierungen angekündigt worden waren, beschlossen hatte, Sonja zu ihren Vettern und Cousinen außerhalb der Stadt zu schicken, wäre er verloren. »Pskow!«, würde sie entsetzt ausrufen. »Pskow ist eine Kleinstadt! Mama hätte nie gewollt, dass ich da hingehe. Die haben da ja nicht mal ein eigenes Ballett!«
Sonja sagte nichts, sondern schob nur die Unterlippe vor.
»Es ist ja nicht für lange«, sagte Nikolai. Warum kamen Eltern Lügen eigentlich so leicht über die Lippen, obwohl Kinder rigoros dazu erzogen wurden, die Wahrheit zu sagen? »Vielleicht ist es nicht für lange«, verbesserte er sich. »Du darfst nicht vergessen, dass es in Leningrad eine Zeitlang nicht ungefährlich sein wird.«
»Das ist mir egal! Denkst du, ich bin eine Memme? Wahrscheinlich hat Gessen Eins rumerzählt, dass ich die kleine Baby-Drossel gerettet habe.«
»Ich höre nicht auf die Gessens, von Eins bis Fünf. Das weißt du.« Er zog sie an sich, aber es war, als umarme er einen kleinen starren Baum.
»Und Tante Tanja?«, fragte Sonja. »Schicken die Generäle sie auch weg?«
»Tante Tanja wird hier gebraucht.«
»Wofür? Zum Saubermachen? Das kann ich auch. Warum schickst du nicht Tante Tanja an meiner Stelle nach Pskow?«
»Tanja macht nicht sauber«, seufzte Nikolai. »Und sie wird auch uns demnächst nicht mehr helfen, sondern zusammen mit ein paar anderen Frauen Blockaden errichten.«
»Blockaden? Was ist das?
»Hindernisse, die aufgestellt werden, um die deutschen Panzer abzuwehren.« Vermeintlich , fügte er im Stillen hinzu. Er hatte den kleinen Wald aus Betonpyramiden auf den Feldern südwestlich der Stadt gesehen, einschließlich der klapprigen Holzzäune, von denen sie abgestützt wurden. Wenn die Panzer so weit kamen, würden sie darüber hinwegrollen, ohne dass man auch nur ein Rumpeln wahrnahm. »Können wir nicht weitergehen, während wir uns unterhalten?«, bat er sie. »Ich muss bis zwölf im Krankenhaus sein.«
»Na gut.« Aber Sonja machte ein grimmiges Gesicht. Die Schlacht war eindeutig noch nicht geschlagen.
Sie gingen schweigend den Moika-Kanal entlang, während um sie herum gerufen und gehämmert wurde, Bauholz auf den Boden fiel, Räder ratterten. Die ganze Stadt war ein wimmelnder Ameisenhügel, überall setzten sich Einwohner in Marsch, um zu graben und zu bauen. Die Energie steckte Nikolai an – nicht mit dem Wunsch, Teil all der Geschäftigkeit zu sein, sondern einfach glauben zu können, dass nicht alles vergebens war. Leningrad, Stadt des Dunstes und der Nebel, erbaut von tollkühnen Träumern, die Steintürme und Goldkuppeln auf schwankendes Marschland gesetzt hatten! Seine Sohlen klatschten lauter auf den Asphalt. Tollkühn oder auch tolldreist. Diese Stadt war schon lange, bevor Hitler sie ins Visier genommen hatte, dem Untergang geweiht gewesen.
Sonja ging ihm voraus auf die Antonenko-Brücke. Sie lief auf einer schnurgeraden Bahn, aber der Scheitel in ihrem Haar war schief und krumm, eher eine Zickzacklinie. Als hätte sie Nikolais Blick bemerkt, wirbelte sie herum. »Kannst du nicht ein bisschen schneller gehen? Wenn du pünktlich sein willst, können wir nur noch vier Minuten beim Reiter bleiben, dann müssen wir schon wieder weiter.«
»Vielleicht geht deine Uhr vor? Nach meinen Berechnungenhaben
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