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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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gesagt hat, sie sind nicht zum Spielen da.«
    Mit vor Enttäuschung stocksteifem Rücken machte Galina kehrt; ihr langer geflochtener Zopf schwang hin und her wie das Pendel einer Uhr. »Nicht so fest, Maxim. Sei vorsichtig. Das ist kein Spielzeug.«
    »Keinspielzeug«, wiederholte Maxim. »Keinspielzeug.«
    Während sie so weiterplapperten – »Die Atemlöcher müssen nach links zeigen. Nein, so nicht!« –, achtete Schostakowitsch nicht mehr auf die Wörter, sondern hörte den Kontrapunkt in ihren Stimmen. Waren es zwei Geigen oder eine Geige und eine Bratsche? Die erste Zeile schnellte davon und fiel wieder zurück: ein Verlangen nach Distanz, ein Hoffen auf Intimität, bis beide Stränge sich eine vollkommene Sekunde lang zu einem einzigen verbanden ...
    »Was habt ihr gesagt?«, fragte er erschrocken.
    Seine Kinder standen vor ihm, daneben seine Frau mit einer Schöpfkelle in der Hand. Alle drei Gesichter drückten die gleiche Ungeduld aus. Eine Sekunde lang wusste er kaum, wer sie waren.
    »Mama hat gefragt, ob du etwas Kohlsuppe möchtest.« Galina sprach langsam und betont, als wäre er taub.
    »Galina hat gefragt, ob du ihr nach dem Essen mit der Sonate helfen kannst«, sagte Nina.
    »Maxim hat fragt, ob er zu Oma gehen darf«, zwitscherte Maxim.
    Schostakowitsch spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog. »Entschuldigt! Ich war einen Moment abgelenkt. Habe an etwas anderes gedacht.«
    »Offensichtlich«, sagte Nina. »Suppe?«
    »Nein, danke«, sagte er. »Du weißt ja, dass ich vor der Arbeit ungern etwas esse. Ist nicht gut für die Geisteskräfte.«
    »Sonate?«, fragte Galina ohne große Hoffnung.
    »Oma!«, forderte Maxim und lief rot an.
    Schostakowitsch holte tief Luft. »Ich habe eine großartige Idee. Wir könnten doch Fenja bitten, euch heute Nachmittag zu Oma zu bringen. Dann kann Oma Galina mit der Sonate helfen. Sie ist eine viel bessere Lehrerin als ich.« Meisterhaft! , hörte er Sollertinski ironisch sagen.
    Galina ließ die Schultern hängen. »Ich wollte das aber viel lieber mit dir machen.«
    »Ein großartiger Plan.« Nina knallte Gläser auf den Tisch. »Wenn man von der Tatsache absieht, dass Fenja seit über einer Woche nicht mehr bei uns war. Noch in absehbarer Zeit zurückkommt.«
    »Wurde sie ... eingezogen?«
    »Die Stadt stellt eine weibliche Baubrigade zusammen. Fenja hat jetzt Wichtigeres zu tun, als für uns zu kochen.«
    »Die arme Fenja! Das wird sie ja völlig auszehren!« Schostakowitsch klang bestürzt. Lügner, du bist nur neidisch!, lachte Sollertinski. Du würdest doch selbst gern mitmachen!
    »Ich glaube kaum, dass das Ausheben von Gräben anstrengender ist als ein Besuch bei deiner Mutter«, sagte Nina, während sie Maxim ein Lätzchen umband.
    Schostakowitsch trat den Rückzug an. Die Wärme in der Küche, das Gebrabbel und der Dampf, die Neuigkeiten, die Anwürfe –
    »Ich muss arbeiten«, sagte er matt. Und dann trotzig: »Ich muss arbeiten. Ich habe zu tun.«
    Ohne eine Reaktion abzuwarten, schloss er die Tür und ging zu seinem Schreibtisch. Dort saß er erst einmal eine Minute lang und starrte auf die Kompositionen, die noch korrigiert werden mussten. Verzweifelt legte er den Kopf auf den Stapel. Wann endlich würde das Leben seiner Musik nicht mehr in die Quere kommen? Die Linien mit der kritzeligen Notenschrift seiner Studenten erstreckten sich vor seinen Augen wie Reihen undisziplinierter Soldaten.
Der Reiter
    »Ich geh nicht weg«, sagte Sonja.
    Es war mitten am Vormittag, und eine leichte Brise hob die Blätter der Platanen und ließ ihre silbernen Unterseiten wie Forellenbäuche aufblitzen. Das Sonnenlicht hatte etwas ähnlich Nervöses an sich; es glitt von den schimmernden Zwiebeldächern, als wollte es wenigstens an diesem Tag unbemerkt bleiben.
    Sie waren erst vor zehn Minuten losgegangen, doch schon spürte Nikolai, wie ihm der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinunterrann. Er trat beiseite, um einer Reihe Fabrikarbeiterinnen auszuweichen, die schwer beladene Handkarren zu den Außenbezirken der Stadt schoben. Sie richteten den Blick auf den Boden, um Unebenheiten im Kopfsteinpflaster rechtzeitig zu bemerken, und hatten die Ärmel hochgekrempelt, sodass man ihre muskulösen Arme sah. Das Gerumpel der Räder übertönte den Rest von dem, was Sonja sagte, aber Nikolai sah ihre Lippen deutlich trotzige Wörter formen.
    Schließlich hatte der Zug der Handkarren den Platz überquert, und der Lärm verhallte. Doch Sonja wollte sich nun

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