Dirigent
dastand, erschien es ihm ganz und gar stimmig, dass er und Nina für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben würden.
Natürlich wiederholten sich die Wutausbrüche. Er hatte noch nie solche Auseinandersetzungen erlebt. Türen knallten, Fensterrahmen krachten herab wie Fallbeile. Nina war unglaublich kampflustig, sie konnte ihn frieren lassen wie der härteste Frost und mit einem Blick verbrennen. Aus Rache für ihre vorübergehende Fahnenflucht verschwand er öfter als einmal eine Nacht lang in der Kneipe. »Nina ist ein Geschenk«, sagte Sollertinski und ermunterte ihn trotzdem, weiter im Wodkasumpf zu versinken. »Du solltest besser auf sie aufpassen.« Schostakowitsch, der die Gläser nicht mehr mitgezählt hatte, hing über dem Tisch und hoffte, dass sie ihn vermisste.
Als er nun durch die Stadt lief, die sich auf die deutsche Invasion vorbereitete, fragte er sich, wie er es Nina beibringen sollte. Er fühlte sich schuldig, als wäre es allein seiner Nachlässigkeit zuzuschreiben, dass die Verteidigungslinien hatten durchbrochen werden können. War er zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, um das große Ganze im Visier zu behalten? Jetzt, da er von seiner Musik aufgeblickt hatte, war es zu spät. Der Feind rückte unerbittlich vor, und das alltägliche Leben fiel bereits auseinander.
Der Branntwein schwappte in seinem Magen. Er hoffte, dass der Hausmeister ihres Gebäudes die Bewohner schon gewarnt oder dass Fenja es vielleicht auf dem Markt gehört hatte. Er wollte nicht der Überbringer dieser Nachricht sein.
Sobald er durch die Tür trat, war ihm klar, dass Nina Bescheid wusste. Sie saß an dem langen geschrubbten Tisch und nähte Maxims Teddybären ein Ohr wieder an. »Ein erstes Kriegsopfer«, sagte sie anstelle einer Begrüßung. »Um genau zu sein: Opfer des Tauziehens zweier kleiner Krieger.« Ihre Hand war ganz ruhig.
»Noch ist nichts sicher.« Schostakowitsch atmete ein, als er sie auf die Stirn küsste, damit sie den Branntwein nicht roch. »Denk dran, wie sich unsere Panzer in Pskow geschlagen haben. Alle sagen, die Deutschen seien für unsere Armee nicht ausreichend gewappnet.« Nervös rollte er einen Bleistift zwischen den Handflächen. »Wir könnten sie zurückdrängen. Wir könnten sie immer noch vernichten.«
Nina fädelte ihre Nadel wieder ein. »Eventuell gibt es eine Möglichkeit für uns, rauszukommen. Es ist die Rede davon, prominente Bürger und ihre Familien zu evakuieren, vielleicht nach Taschkent.«
Er stach den Stift in die Tischplatte und spürte, wie die Bleimine tief im Holz brach. »Nein. Keinesfalls. Ich werde nicht desertieren. Damit könnte ich nicht leben.«
»Mit Verlaub –« Sie sah ihn scharf an. »Betrachte es nicht als Desertieren, sondern als eine Maßnahme, um deinen Kindern das Leben zu retten.«
Als er die Hand öffnete, zerfiel der Bleistift in zwei Hälften. »Nina«, sagte er. »Die einzige Frau, die mir je Paroli bietet.« Er ging wieder um den Tisch herum und küsste sie auf den Mund. Ihre Lippen waren so warm und voll, wie sie es damals in ihrer ersten Nacht gewesen waren, doch ihre Hände blieben, wie die eines Chirurgen, wo sie waren – die rechte führte die Nadel, die linke hielt den Kopf des verwundeten Bären.
»Du hast getrunken.« Sie sprach in seinen Mund hinein. »Und du hast seit Wochen nicht mit mir geschlafen. Nicht mal im selben Zimmer.«
Die Kombination aus Vorwurf und Begehren war zu viel, er wich zurück. Sein Verlangen nach ihr war groß, aber er musste arbeiten.
Galina kam ins Zimmer gelaufen. »Essen wir gleich? Ich hab solchen Hunger!«
»Ja, es ist Zeit.« Nina räumte ihr Nähzeug weg.
»Papa!« Maxim lief immer im Kreis um ihn herum. »Guck mal!« Er verschwand unter dem Tisch und tauchte kurz darauf mit einer Gasmaske auf dem Gesicht wieder auf.
Schostakowitsch trat einen Schritt zurück. »Wo zum Teufel hast du die her?« Sein Sohn sah erschreckend aus, ein kleiner Körper, der unter einem enormen rinderähnlichen Schädel schwankte. »Nimm sie ab. Sofort! Das ist kein Spielzeug.«
»Die werden jetzt im Militärhauptquartier ausgegeben«, sagte Nina. »Eugene ist mit unseren Ausweisen hingegangen. Er hat es geschafft, für jeden im Haus eine zu bekommen. Besser, man ist gerüstet.«
»Für dich ist auch eine da, Papa.« Wie ein Hund, der seinem Herrn gefallen will, schleppte Galina einen Armvoll schwerer Gummimasken an.
»Leg sie wieder in den Karton, Galina«, sagte Nina. »Du hast gehört, was dein Vater
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