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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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weitere Lüge war.
    »Du verstehst das nicht! Ich muss morgens und nachmittags und abends nach dem Essen üben. Sonst geht alles schief.«
    »Was geht sonst schief?« Er begann sich Sorgen zu machen. »Meinst du die Stücke, die du spielst?«
    »Nein, nicht nur die. Alles!« Sie warf verzweifelt ihre Zöpfe nach hinten. »Dann ist nichts mehr ... sicher.«
    Nikolai lief ein Schauer über den Rücken. Was meinte sie damit, dass nichts mehr –
    »Seid gegrüßt, Nikolai Nikolajew und Sonja Nikolajewska!« Schostakowitsch stand vor ihnen, in Schlips und Kragen, die Stirnlocke glatt nach hinten gekämmt. »Wohin mögen ein geachteter Geiger und eine vielversprechende Cellistin an einem so schönen Tag unterwegs sein?«
    »Herr Schostakowitsch!« Im Nu waren Sonjas Ängste verflogen. »Papa muss zur Musterung, obwohl er mir versprochen hat, dass er nicht im Krieg kämpfen wird. Und ich gehe jetzt nach Hause, um zu üben.« Sie fischte ihren Schlüssel aus der Tasche ihres Kleids; die silberne Kette blitzte im Sonnenlicht.
    »Du hast einen eigenen Hausschlüssel!« Schostakowitsch erkannte die Bedeutsamkeit dieses Umstands sofort. »Wann ist dir diese Ehre zuteil geworden?«
    »Gerade erst. Bisher hat Tante Tanja mich immer reingelassen, aber sie ist jetzt nicht mehr da. Ich hätte schon längst einen haben können. Ich verliere nie etwas.«
    »Wenn mehr Russen dein verantwortungsvolles Wesen hätten«, sagte Schostakowitsch feierlich, »säße unser Land nicht so in der Klemme.« Er sah Nikolai an. »Sie melden sich also freiwillig? Sollertinski meint, dazu bestehe keinerlei Notwendigkeit. Sie werden evakuiert, bevores so weit ist. Die Philharmonie und das Konservatorium gehören zu den Kulturjuwelen in der Krone unseres Großen Führers.« Seine Augen hinter den Brillengläsern funkelten verächtlich.
    »Da mag Sollertinski recht haben.« Nikolai nickte. »Er scheint ja immer zu wissen, welche Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Dennoch möchte ich mich der Musterung unterziehen als einer Art ... abergläubischer Vorsichtsmaßnahme.« Genauer konnte er seine Gründe nicht erklären, auch sich selbst nicht.
    »Verstehe vollkommen. Manchmal ist die Intuition die einzige Stimme, auf die es sich zu hören lohnt. Unmöglich, zu wissen oder vorherzusagen, was passiert.« Schostakowitsch blickte zum Himmel. »Nina möchte, dass wir die Stadt verlassen, aber ich habe das Gefühl, wir sollten so lange wie möglich hierbleiben. Dies sind meine Straßen. Leningrad ist der Basso ostinato meines ganzen Lebens gewesen.« Er nahm die Brille ab und wischte die Gläser an seinem Ärmel sauber. Derart unmaskiert wirkte er verletzlich und entschlossen zugleich – so ähnlich, wie er vielleicht im Alter von neunzehn ausgesehen hatte, als er den Applaus eines begeisterten Publikums für seine Erste Sinfonie entgegennahm.
    »Aber sind Sie denn in der Lage, weiter zu arbeiten? Inmitten all dieses Aufruhrs?«
    »Ich habe sie endlich zwingen können, mich in die Bürgerwehr aufzunehmen, obwohl ich blind bin wie eine Fledermaus.« Schostakowitsch machte ein zufriedenes Gesicht. »Ich habe die Absicht, zu hämmern und zu graben und zu bauen, bis mir die Puste ausgeht. Bestimmt werde ich auch noch gebeten, mitreißende Lieder zur Hebung der allgemeinen Moral zu komponieren. Aber ich bin der Stadt nicht weniger als einen Vierundzwanzig-Stunden-Dienst schuldig. Ohne Leningrad wäre ich nichts.«
    »Ich denke, das beruht auf Gegenseitigkeit. Die ganze Stadt ist stolz auf Ihre Leistungen.«
    Einen Moment lang wirkte Schostakowitsch gereizt. »Das ist nichts. Ich tue nur meine Arbeit.« Er scharrte mit den Füßen. »Und nun muss ich gehen. Zum Reden bleibt dieser Tage keine Zeit. Handeln – das ist von jetzt an die Devise. Womöglich für beklagenswert lange Zeit.«
    »Ich muss auch los.« Sonja zog sich mit einer entschiedenen Geste die Socken hoch. »Mein Cello wartet, und ich muss noch ganz viel aufräumen.«
    »Aufräumen?« Schostakowitsch sah sie billigend an. »Ich glaube, wir könnten dich bei uns zu Hause gebrauchen. Da geht es oft sehr chaotisch zu, vor allem jetzt, wo wir keine Haushaltshilfe mehr haben. Du bist sicher auch ganz leise beim Aufräumen, stimmt’s?«
    »So leise, dass Papa mich Maus nennt«, sagte Sonja. »Übrigens, wer kommandiert bei Ihnen zu Hause am meisten herum?«
    Schostakowitsch überlegte. »Ich glaube, darin sind wir allesamt ganz gut. Ich natürlich sowieso, und Frau Schostakowitsch

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