Dirigent
wir mindestens fünfeinhalb Minuten übrig.«
Sonja ignorierte seinen halbherzigen Witz. Sie ließ die Isaakskathedrale links liegen, ohne auch nur einen schnellen Seitenblick darauf zu werfen, obwohl sie normalerweise gern die Stufen hinauflief und die Füße an dem kleinen eisernen Ochsen neben der Tür abstreifte. Doch als sie ihr Ziel erreicht hatten, keuchte sie. »Der Reiter!«
Vor ihnen erhob sich die vertraute Bronzestatue von Peter dem Großen. Er saß auf seinem riesengroßen, sich aufbäumenden Pferd, das Gesicht von der Stadt abgewandt, die er gegründet hatte, den Blick für alle Ewigkeit auf einen fernen Horizont gerichtet. Sein Schwert hatte zum Heft hin eine grünliche Färbung angenommen, doch seine Spitze glänzte von der Berührung vieler Hände, und die gebeugte Fessel seines Pferds war zu Gold gestreichelt worden.
»Was machen die da?« Sonja flüsterte beinahe.
Der Zar und sein Pferd standen hoch aufgerichtet da wie immer, doch unten am Sockel machten sich Männer und Frauen mit Schaufeln und Äxten zu schaffen, eilten hin und her und hackten auf die Erde ein. Sie hatten schon Pfähle in den Boden gerammt und hämmerten nun eine hölzerne Plattform darauf fest. Unmittelbar unter dem sich aufbäumenden Pferd stand ein Offizier der Bürgerwehr. Trotz der glänzenden Messingknöpfe und seiner breiten Brust wirkte er mickrig, unbedeutend, so als könnte er von den riesigen Hufen ohne weiteres zermalmt werden.
»Sie bauen einen Schutz für den Reiter.« Nikolai starrte auf die gebeugten Rücken, die gespannten Unterarmmuskeln, den Ruck, der durch die Schultern ging, wenn eine Schaufel auf Stein stieß.
»Damit die Deutschen ihm nichts tun können?« Sonjas Hand stahl sich in seine. »Was könnten sie denn machen? Ihn klauen?«
»Vielleicht. Oder ihn zertrümmern.«
Plötzlich kippte ein Stapel Holz vom Podest und rutschte mit lautem Getöse hinunter bis auf die aufgeschüttete Erde.
»Unfähige Idioten!«, rief der Offizier und schlug mit seiner Peitsche auf die Statue ein. Zong! Zong! Die Hiebe waren über das Geächze und Gehämmer hinweg gut zu hören. »Wie sollen wir uns mit so ungeschickten Schwachköpfen wie euch, verdammt noch mal, die Deutschen vom Leib halten?«
»Aber deshalb braucht er doch das Pferd nicht zu schlagen!«, rief Sonja empört.
»Und auch die Männer nicht so zu beschimpfen.« Nikolai hatte gerade erkannt, wer der Offizier war: Wladimir Lissin, der etliche Jahre zuvor eine Freundin aus Nikolais Studententagen geheiratet hatte. Nur drei Monate nach der Hochzeit hatte Anja Lissin sich auf das äußere Dachbodenfenstersims gehievt, dort eine Sekunde lang balanciert und sich dann auf die Straße geworfen. Ihr Schädel brach entzwei, ihr zarter Brustkorb wurde zerschmettert, doch ihr enttäuschtes Herz hatte noch mehrere Stunden weitergeschlagen, als wollte es den brutalen Lissin so lange wie möglich anklagen.
»Wir müssen weiter«, sagte er rasch.
Aber Lissin schlitterte bereits auf seinen gespornten Hacken den Erdwall herunter. Eine Sekunde schien es, als würde sein kalter Blick über sie hinweggehen, doch dann stutzte er. »Nikolai Nikolajew? Hab ich recht?«
»Ja.« Vor lauter Abneigung schnürte es Nikolai die Kehle zu. »Aber wir wollten gerade weiter.«
»Wohin?«, fragte Lissin, als wäre es seine Aufgabe, das Kommen und Gehen aller Bürger Leningrads zu überwachen.
»Papa hat einen Termin im Krankenhaus«, verkündete Sonja. »Wir dürfen nicht zu spät kommen.«
»Eine lobenswerte Einstellung.« Lissin schlug sich mit seiner Reitgerte gegen den Stiefel. »Pünktlichkeit gewinntan Boden. Wer zu spät kommt, verliert Kriege.« Er lachte, sodass seine krummen bräunlichen Zähne zum Vorschein kamen.
Sonja sah ihn unverwandt an. »Mein Vater muss zur Musterung, und ich muss nach Hause und meine Sachen packen. Ich gehe bald aus Leningrad fort.« Auf ihren Wangen erschienen leuchtend rote Flecken.
»Du gehst ja nicht sofort«, sagte Nikolai und drückte ihre Hand. »Aber Sonja hat recht. Wir haben zu tun. Bitte entschuldigen Sie uns.«
»Wie geht es Ihrer Frau?« Lissin schien keine Lust zu haben, zu seiner Arbeit zurückzukehren. »Ich habe sie vor Jahren mal in einem Konzert der Leningrader Philharmoniker gesehen. Tschaikowski, wenn ich mich recht entsinne. Welch eine Schönheit, welches Talent! Spielt sie noch?«
»Meine Frau ist tot.« Nikolai hatte vier Jahre gebraucht, um diesen Satz ohne Zögern herauszubringen, und fünf, um es mit fester
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