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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Stimme zu tun. Jetzt klangen seine Worte so flach und kühl wie die Flanken des Metallpferds.
    »Tot?« Lissin lief rot an. »Das tut mir leid. Ein solcher Blickfang! So eine hinreißende Frau – tot!«
    Nikolai ballte die rechte Hand in der Tasche. Er hätte Lissin am liebsten zu Boden geschmettert, ihn vor den Augen der Arbeiter, die dieser Mann so wüst beschimpft hatte, wie einen Baum gefällt, auf dass sie ihn mit Erde bedeckten und er erstickte.
    »Meine Frau war in der Tat wunderschön«, sagte er so kalt, wie er es sich traute. »Genau wie Ihre. Der Unterschied ist nur, dass meine Frau mir genommen wurde, während Ihre –« Er hielt inne. »Nun, welchen Wert hat das Leben, wenn es die Hölle auf Erden ist?«
    »Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden!« Lissins Gesicht glühte, doch seine Augen waren bleich wie die eines Wolfs. »Was wissen Sie schon von meiner Ehe? Was wissen Sie davon? «
    Mehrere Frauen hielten im Schippen inne, um zuzuhören. Beim Anblick ihrer halb neugierigen, halb ausdruckslosen Mienen fühlte sich Nikolai an Rindvieh erinnert. Darauf also werden wir reduziert , dachte er. Bevor die Deutschen überhaupt in unsere Straßen einmarschiert sind, reduzieren sie uns schon auf Tiere.
    »Komm«, sagte er zu Sonja. »Komm schnell hier weg.«
    »Wie können Sie es wagen?« Lissin schrie jetzt fast. »Verflucht, Sie werden bald selbst die Hölle auf Erden erleben! Die Deutschen werden Sie holen! Sie werden Ihre Strafe noch bekommen!«
    Nikolai wusste nicht, wann er zuletzt so wütend gewesen war. Er blickte über die Schulter und sprach mit lauter Stimme; es war ihm einerlei, ob die Arbeiter ihn hörten. »Passen Sie auf, wem Sie dieses Schicksal wünschen. Selbst das Dritte Reich betrachtet Leute wie Sie nicht mit Wohlgefallen.«
    Sobald sie einen kleinen menschenleeren Platz erreicht hatten, blieb er stehen und holte tief Luft. »Von dem Mann hältst du dich besser fern. Merk dir das, Maus. Wenn du ihn je irgendwo wieder siehst, senk den Kopf und geh weiter.«
    »Warum war er so böse?« Sonja war außer Atem. »Wie ist seine Frau denn gestorben? Haben die Deutschen sie umgebracht?«
    »Nichts dergleichen. Die Deutschen waren damals noch unsere Freunde. Eines Tages –«
    »Wenn ich älter bin, meinst du –«
    »Selbst ich denke nicht gern daran. Dir würde ich es lieber ersparen.«
    »Er hat schlimme Wörter benutzt. Die Nazis holen anscheinend das Schlechteste aus den Menschen heraus. Was wird bloß aus Tante Tanja? Sie war schon vor dem Krieg unfreundlich genug.«
    »In manchen Familien«, sagte Nikolai, »muss das älteste Kind den Löwenanteil der Verantwortung tragen.Tante Tanja war viel älter als Mama, also musste sie sich um alles kümmern und die meisten Aufgaben übernehmen. Ich glaube, dass sie deshalb so –« Vor seinem inneren Auge tauchte plötzlich ein Bild von Tanja auf, wie sie, den Schal ums Gesicht gebunden, eine Axt in steinharten Boden hieb, und es zerriss ihm das Herz.
    »So viel rumkommandiert?«, sagte Sonja.
    »So tüchtig ist«, sagte Nikolai. »Und genauso tüchtig leistet sie jetzt ihren Beitrag für ganz Leningrad.«
    »Gott schütze sie, wo immer sie jetzt ist«, sagte Sonja süßlich.
    »Sonja!«
    »Was denn?« Sonja sah ihn trotzig an. »Ich wiederhole nur, was Frau Gessen neulich über Oma Gessen gesagt hat.«
    »Oma Gessen ist an einer Lungenentzündung gestorben. Tante Tanja hebt irgendwo in der Nähe des Forelli-Krankenhauses Gräben aus. Das ist ein kleiner Unterschied.«
    »Mama ist bestimmt froh, dass sie jetzt oben im Himmel ist«, meinte Sonja, »anstatt sich hier unten von schrecklichen Männern Befehle geben zu lassen.« Sie ging eine Weile schweigend neben ihm her und packte ihn dann plötzlich am Ellbogen. »Oh, nein! Ich muss sofort nach Hause! Ich kann nicht mit zum Krankenhaus kommen!«
    »Es ist gleich da vorn.« Nikolai zeigte an einer Reihe mit Betonpfeilern beladenen Lastwagen entlang. »Außerdem möchte ich nicht, dass du allein zurückläufst.«
    »Aber ich habe heute Morgen noch nicht geübt, und es ist schon fast Nachmittag.«
    »Ist das alles?« Er war erleichtert. »Kannst du nicht heute Nachmittag einfach ein bisschen länger üben?«
    »Nein, das ist nicht dasselbe!« Sie trat blindlings auf die Straße und wäre fast mit einem Radfahrer zusammengeprallt.
    Nikolai zog sie auf den Gehsteig zurück. Ihr Herz schlug so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte. »Die Untersuchung dauert nicht lange«, sagte er, was womöglich eine

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