Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
dass es der Körper seines Vaters war. Vor den Augen seiner Mutter! Die dort, die Arme gegendie beißende Kälte vor der Brust verschränkt, auf ihrem geflickten Mantel saß! Die Peinlichkeit all dessen war ihm in die Seele gedrungen wie die Kälte in seine Knochen.
    Daran dachte Elias jetzt, als er schamhaft in einer behelfsmäßigen Kabine stand, wo sein Hemd schlaff über der Trennwand lag und seine Hosenträger in trostlosen Schlaufen an ihm herunterhingen. »Die Hose können Sie anbehalten«, hatte der Arzt gesagt, bevor er mit seinem Sperrfeuer von Untersuchungen begann. Elias war vor Erleichterung rot geworden. Er konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt jemand seine Beine gesehen hatte. Er stand da, holte scharf Luft und vermied es, in den an der Stoffwand angebrachten Spiegel zu schauen.
    Das Stethoskop auf seiner linken Brust fühlte sich eisig an. Er konnte sein Zittern nicht kontrollieren und wusste, dass es nicht nur von der Kälte kam.
    »Versuchen Sie, sich zu entspannen.« Der Arzt war geübt darin, seinen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten. »Wir wollen den Puls nicht in die Höhe treiben, bevor wir ihn gemessen haben.«
    Warum sagte er »wir«? Schließlich war es nicht der Arzt, der dieser würdelosen Prozedur unterzogen wurde, nicht der Arzt, dem man raue Stäbe auf die Zunge drückte und mit einem Licht in die Augen leuchtete.
    »Wir sind ziemlich dünn, nicht wahr?«
    Der Kommentar des Arztes, fast vorwurfsvoll geäußert, summte an Elias’ Brustkorb. Wohin ich auch gehe, immer fällen die anderen ihr Urteil über mich , dachte er. Es war wie eine Zecke, die sich ihm ins Fleisch gegraben hatte, war der Fluch seines Lebens.
    Vor sich hin murmelnd und irgendetwas auf seinem Block notierend, ließ der Arzt den kühlen Metallmund weiter über Elias’ Brust wandern.
    »Ich bin Dirigent«, sagte Elias plötzlich. Er war sich nicht sicher, warum er das tat – höchstens vielleicht, weiler das Schweigen in der abgetrennten Zelle allmählich als äußerst unangenehm empfand. Doch seine Auskunft erwies sich als keineswegs wirkungslos.
    Der Arzt hob angelegentlich den Kopf. Wenn Elias Dirigent sei, erkläre das die ungleich entwickelte Muskulatur seiner beiden Körperhälften, vor allem beim Bizeps und Trizeps. »Mrawinski, wohlgemerkt«, fügte er hinzu, »ist überall mit Muskeln bepackt, ein richtiges Viech.«
    »Hmmmm«, machte Elias. Erwartete der Arzt, dass er darauf antwortete?
    »Mrawinski mag ja hager wirken«, erklärte der Arzt, »aber das liegt meiner Meinung nach an seiner Kopfform. Sein Schädel ist ungewöhnlich lang und schmal, und seine hohe Stirn verstärkt den Eindruck von Schlankheit noch. In Wirklichkeit hat er den Brustkorb eines Zugpferds, und seine Arme würden einem Ringer Ehre machen. Meine Frau hat eine große Schwäche für ihn – wie wohl die meisten Frauen in Leningrad.«
    Elias’ gezwungenes Lachen ging in ein Husten über. »Sie haben recht. Mrawinski hat Filmstarqualitäten. Seine Statur ist ehrfurchtgebietend – von seiner Technik ganz zu schweigen.«
    »Manche von uns sind eben zum Führen geboren«, pflichtete ihm der Arzt bei, »und manche zum Folgen. Wichtig ist, dass man seinen Platz rechtzeitig erkennt und annimmt. Neid fügt dem Körper schrecklichen Schaden zu. Ich habe Menschen gesehen, die davon zerfressen wurden wie von einer Art Krebs.« Mit dem Selbstvertrauen dessen, der seinen Platz im Leben seit langem kannte, ließ er den Stift in seine Brusttasche gleiten. »Haben Sie auch ein Orchester?«
    Elias drückte die Schultern durch und versuchte zu vergessen, dass er am ganzen Rumpf eine Gänsehaut hatte. »Ja. Ich leite das Rundfunkorchester.«
    Der Arzt schien unbeeindruckt. »Ich gehe nicht oft ins Konzert. Das ist mehr die Sache meiner Frau. Wenn wirgehen, dann zu den Philharmonikern, wegen Mrawinski natürlich.«
    »Natürlich«, wiederholte Elias. »Warum nicht das Beste hören, insbesondere wenn es nur einmal im Jahr geboten wird?« Er bemerkte ein paar kleine Brotkrumen im Schnurrbart des Arztes und auch so etwas wie Eigelbflecken an seinem Hemd.
    »Die Musik muss wohl für eine Weile in den Hintergrund treten«, sagte der Arzt. »So wie, fürchte ich, die meisten kleinen Freuden des Lebens.« Aber es klang nicht allzu bedauernd.
    Elias knöpfte sich das Hemd zu. Wenn der Arzt Mitglied in seinem Orchester gewesen wäre, hätte er ihn nach Hause geschickt. »Ihre Anwesenheit ist nicht mehr erwünscht«, hätte er gesagt. »Sie dürfen

Weitere Kostenlose Bücher