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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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sonst reiß ich dir das Klemmbrett aus deinen dicken Beamtinnenhänden und zieh dir damit eins über .
    Ärgerlich hakte die Frau Sonjas Namen ab. »Wie Sie wollen. Wenn Nummer 78 etwas passiert, ist das nicht meine Schuld.«
    »Was wird mir denn passieren?« Sonja packte Nikolais Hand. »Werde ich bombardiert? Werde ich ... getötet?« Ihre Handfläche war rutschig vor Angst.
    Die Wut, die er empfand, erschreckte Nikolai nicht mehr; es fehlte nicht viel, und er hätte der Frau eins auf den übereifrigen Mund gegeben. Stattdessen bückte er sich und strich Sonja das Haar aus dem heißen Gesicht. »Dir wird überhaupt nichts Schlimmes passieren«, versicherte er ihr. »Du kannst den Mantel ausziehen, sobald du im Zug bist. Es dauert jetzt nicht mehr lange.«
    Sonja lehnte sich ein paar Sekunden lang an ihn, atmete ein, atmete aus. »Die Deutschen werden zum Teufel gejagt«, sagte sie auf, so wie sie und Nikolai es eingeübt hatten, »in Leningrad wird wieder Frieden sein, und ich kann nach Hause kommen.«
    »Genau«, sagte er, doch in seinem Magen brodelte es vor Schuldbewusstsein und Angst.
    Ein Pfiff ertönte, wie das Startsignal bei einem Rennen.Sonja blickte nervös über die Schulter. »Heißt das, ich muss jetzt einsteigen?«
    »Ich fürchte, ja.« Nikolais Herz hämmerte so stark, dass ihm schlecht wurde. »Hast du deine ... deine Tasche?«
    Die Klemmbrettfrau klopfte ihm auf die Schulter. »Setzen Sie sie jetzt in den Zug! Er fährt in einer Minute ab.«
    Plötzlich packte Sonja Nikolais Arm, Tränen strömten ihr über die Wangen. »Bitte, Papa, schick mich nicht weg! Ich helfe auch noch mehr im Haushalt und schaufle Gräben in den Feldern mit Tante Tanja. Bitte schick mich nicht weg!«
    »Mein Liebling. Meine Maus.« Nikolai konnte kaum sprechen. »Aber vielleicht muss auch ich Leningrad noch verlassen, das weißt du doch. Es ist besser, wenn wir beide in Sicherheit sind, damit wir später wieder zusammenkommen können.«
    »Wann?« Sonjas Gesicht und Hände waren nass vom Weinen, und sie klammerte sich an Nikolais Arm wie an einen Rettungsring. »Wann?«
    »Setzen Sie sie in den Zug!« Die Frau packte Sonjas linken Arm und schüttelte ihn. »Hör auf zu weinen! Willst du, dass der Zug ohne dich abfährt?«
    Nikolai versuchte, sich aus Sonjas Griff zu lösen, während die Frau sie um die Taille fasste. Einen Moment lang praktizierten die Drei eine sonderbare Art von Tauziehen: Die Frau zerrte von hinten an Sonja, Nikolai wich zurück, und Sonja hielt sich an beiden fest.
    Mit dem letzten Pfiff gab sie auf. Ihre Arme und Beine wurden schlaff, und die Beamtin hielt ein Bündel aus rotem Mantel und verknäulten Gliedmaßen in den Armen. »Na endlich!« Sie bugsierte Sonja die Stufen hoch und übergab sie und ihren Koffer einer freundlich wirkenden Frau, die sie in den überfüllten Gang zog. Die Tür knallte zu, der Zug kreischte.
    Nikolai zitterte am ganzen Körper. Er ging ein paar Schritte und versuchte, durch die mit Jalousien versehenenFenster einen Blick auf Sonjas roten Mantel zu erhaschen. Ein Gewimmel von zerzausten Schöpfen und geröteten Gesichtern – doch keins davon gehörte Sonja. Der Zug hatte sie mit Haut und Haaren verschluckt.
    Er schaffte es nicht, den endgültigen Moment abzuwarten, die mahlende, ratternde, rauchende Abfahrt. Er drehte sich um, trat jemandem auf den Fuß. »Entschuldigung. Entschuldigung.« Zwischen den weinenden Frauen hindurch steuerte er auf den Ausgang zu. Draußen angelangt, stützte er die Hände auf die Knie und rang nach Luft.
    Auf dem Heimweg war ihm, als klafften Schnittwunden in seinen Fußsohlen, durch die all seine Kraft und Ausdauer herausströmten. In seiner Wohnung angekommen, konnte er kaum noch stehen. Er sank im Wohnzimmer zu Boden und kroch an der Wand entlang zu Sonjas Tür. Vorsichtig, als würden ihm sonst die Augen aus den Höhlen springen, spähte er in ihr Zimmer – und die Härchen auf seinen Armen sträubten sich.
    Sie hatte all ihre Sachen von den Regalen und aus den Schränken genommen und in akkuraten Reihen auf dem Boden ausgebreitet. Überschuhe und Halbschuhe standen mit den Zehen zur Tür, als erwarteten sie Marschbefehle. Füller, Bleistifte und Lineale lagen wie Operationsbesteck nebeneinander. Kleider und Unterröcke waren ordentlich gefaltet und bildeten gleich hohe Stapel.
    Nikolai zog sich hoch und taumelte ins Zimmer. Er spürte etwas Weiches unter seinem Schuh: den Stoffkörper einer Puppe, die aus ihrer Reihe gefallen war. Das

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