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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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vornahm, berührte sie jede Ecke ein paar Mal und murmelte: »Zwei, vier, acht, zwölf.«
    »Liebling?« Er versuchte unbekümmert zu klingen. »Was zählst du da?«
    »Nichts. Guck nicht zu mir, sondern in die Zeitung. Deine Aufgabe ist es, den Krieg im Auge zu behalten.«
    Abschätzig blickte er auf den Leitartikel. »Diese Zeitung informiert uns über gar nichts, weil wir anscheinend nichts wissen sollen.« Trotzdem blätterte er wie befohlen die Seiten um. Sobald er nicht mit ihnen raschelte, hörte er Sonjas kleine Atemstöße, die ihn fast zum Weinen brachten.
    Als sie verschwand, um in den Schlafzimmern Staub zu wischen, legte er die Zeitung beiseite. Nichts als unbestätigte sowjetische Siege an nicht genau benannten Fronten sowie Ermahnungen der Regierung, vor Verrätern und Spionen auf der Hut zu sein. Zweifel schwollen in ihm an, erschwerten ihm das Atmen. Handelte er verantwortungsvoll – oder beging er schlicht einen Fehler? Immerhin harrte Schostakowitsch dickköpfig in Leningrad aus und behielt auch seine Kinder bei sich. Aber wenn es ums Prinzip ging, war Schostakowitsch ein nahezu besessenerRomantiker – ein Verrückter, meinte Tanja, die von Fenja Geschichten über das Chaos bei den Schostakowitschs hörte (wo die ganze Nacht die Lampen brannten, die Arbeitszimmertüren verriegelt waren, die Kinder wild im Treppenhaus herumtobten und Frau Schostakowitsch auf dem Sofa schlief, weil ihr Mann schöpferischen Freiraum brauchte). Ja, Schostakowitsch verfügte über die Sicherheit des wahren Egoisten, während Nikolai nichts mit Sicherheit wusste.
    »Gar nichts«, murmelte er, »außer dass ich gezwungen bin, mich morgen vom Kostbarsten, was ich habe, zu trennen.«
    In dieser Nacht tat er kein Auge zu. Stattdessen konzentrierte er sich erbittert auf Bilder: Sonjas kugelrunde Augen, als sie hörte, dass die Schätze aus der Eremitage entfernt und nach Swerdlowsk verschifft worden waren (»Tausend Meilen weit weg? Eine Million?«); ihre roten Wangen, wenn sie lachte; die flaumigen kleinen Haarpfeile in ihrem Nacken. Ihre gerundeten Unterarme beim Cellospielen, die vom Bogen stammenden Kerben in ihrem rechten Daumen, die Hornhaut an den Fingern ihrer linken Hand. Er versuchte, diese Bilder in seinem Kopf zu archivieren, obwohl er wusste, dass es sinnlos war.
    »Wie lange wird es dauern?«, flüsterte er. »Wie lange, bis es sicher genug ist, sie wieder nach Hause zu holen?« Das Fenster klapperte, die Uhr tickte auf den Morgen zu, und er verbarg seinen Kopf unter dem Kissen. Doch in seinem nervösen Blut und seinem klopfenden, bangen Herzen nahm er das Verstreichen der Zeit dennoch wahr.
    Der Morgen war fast wie jeder andere. Einst fremde Geräusche – marschierende Stiefel, dröhnende Lautsprecher, das Heulen von Sirenen – waren inzwischen vertraut. Sie vermischten sich mit denen einer normaleren Vergangenheit – klappernden Mülltonnen, bellenden Hunden, den im Hinterhof streitenden Gessens. Der warme Haferbreigeruch zog durch die Wohnung, doch er bot wenig Trost.Schon bald schob Sonja ihre Schüssel von sich und verschwand in ihrem Zimmer.
    »Sieh noch mal nach, ob wir auch alles eingepackt haben«, rief ihr Nikolai durch die geschlossene Tür zu. »Haben wir an Strumpfhosen und Handschuhe gedacht? Du bist bestimmt vor Ende des Sommers zurück, aber sicher ist sicher ...« Er suchte nach einer Beschäftigung, goss übrig gebliebene Milch in eine Flasche und streckte sie mit Wasser. Doch seine Hände zitterten so sehr, dass die Milch an der Flasche hinunter und auf die Arbeitsplatte lief.
    Er gab auf und setzte sich, den Blick auf die geschlossene Tür gerichtet, bis das Ticken der Uhr sich nicht mehr ignorieren ließ. »Sonja, der Zug wartet nicht! Kann ich dir helfen?«
    »Ich brauche noch fünf Minuten.« Ihre Stimme klang fern, aber sehr entschieden.
    Leise ging er zur Tür und legte das Ohr ans Holz. Er hörte sie reden – sagte sie ihren Puppen auf Wiedersehen? Ab und zu hob sie fragend die Stimme und war dann still, als wartete sie auf eine Antwort. Schweiß prickelte Nikolai unter den Armen. Er gab ihr noch sechzig Sekunden, dann würde er hineingehen.
    Als die Tür aufflog, sprang er schuldbewusst zurück. Ihren roten Wintermantel um die Schultern, stand Sonja da. In der rechten Hand hielt sie ihren kleinen abgenutzten Koffer, in der linken das Cello. »Wir haben noch ein paar Minuten, um uns von den Gessens zu verabschieden«, sagte sie. »Das ist doch nur höflich, oder?«
    Er war so

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