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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Strawinskys musikalische Verdienste versus seine charakterlichen Mängel getrunken hatte. Außerdem hatte man Prokofjew aus dem Restaurant schleichen sehen mit einer Miene, so düster wie ein feuchter Märzmorgen. »Probleme mit seiner Frau«, sagte Sollertinski und nickte wissend. »Es heißt, er habe die Finger in Nachbars Marmeladentopf gesteckt.«
    »Umso besser für Lina Prokofjewa«, sagte Schostakowitsch. »Wer will schon mit einem Esel verheiratet sein?« Es war über sechs Jahre her, aber es fiel ihm schwer, zu vergessen, wie Prokofjew die Partitur von Lady Macbeth durchgeblättert und sie als unterhaltsam, aber ein wenig verrückt bezeichnet hatte.
    »Jetzt, da deine Frau gegangen ist«, warnte ihn Sollertinski, »hast du ja wohl hoffentlich nicht vor, in Prokofjews unstete Fußstapfen zu treten.«
    »Ganz sicher nicht. Die Zeiten sind vorbei. Selbst diese Schönheit –« Er nickte zu Nina Bronnikowa hin, die sich mit Nikolai unterhielt. »Selbst sie könnte mich nicht in Versuchung führen. Nein.« Er schüttelte den Kopf, fühlte sich tugendhaft, sicher, ja sogar glücklich. Glücklich! Wie war das möglich, wo doch sein bester Freund in die eine und diverse andere Freunde in die andere Richtung reisen würden und der arme junge Fleischmann ... Aber er wollte nicht daran denken, nicht an diesem Abend. Er sprang vom Podium und landete mit seinem vollen Gewicht auf den Zehen des Rundfunkdirigenten.
    »Oh, entschuldigen Sie bitte!«, sagte er. »Anscheinend ist es mir bestimmt, immer wieder auf Sie zu stoßen –ganz buchstäblich.« Der Dirigent (Wie hieß er noch gleich? Er konnte es sich einfach nicht merken!) sah verändert aus: die Schultern straffer, der Blick direkter.
    »Vielleicht«, antwortete der Dirigent mit einem angedeuteten Lächeln, »ist es mir beschieden, zu Füßen der Großen zu stehen. Und manchmal unter denselben!«
    »Wenn das nicht Karl Eliasberg ist!«, unterbrach sie Sollertinski. »Genau der Mann, den wir jetzt brauchen. Mrawinski behauptet, wenn er Gefühl in eine Darbietung lege, werde ein gebildetes Publikum entsprechend reagieren. Was sagen Sie als ebenfalls erfahrener Dirigent dazu?«
    Elias wirkte erschrocken. »Ich muss z-z-zugeben, dass ich vom Gegenteil überzeugt bin. Ein Dirigent kann das der Musik innewohnende Gefühl kanalisieren – aber er darf es nie selbst zur Schau stellen.« Ein wenig nervös blickte er zu Mrawinski. »Ich m-möchte Ihnen nicht widersprechen, aber eine solche Einstellung ist für Musiker wie Dirigenten gleichermaßen ruinös. Wir sind nicht da, um Gefühle zu erleben, sondern um sie zu vermitteln.«
    »Genau das, was ich immer sage!« Schostakowitsch schlug ihm beifällig auf den Rücken. »Musiker und Dirigenten sind nur Mittel.«
    »Mittelmaß, meinst du?« Amüsiert wandte Sollertinski sich Elias zu. »So sieht die kaum verhohlene Geringschätzung Dmitri Schostakowitschs gegenüber denen aus, die für ihn unentbehrlich sind. Ohne Musiker und Dirigenten bliebe seine Musik stumm. Mit ihrer Hilfe reicht sie gelegentlich an das Erhabene heran.«
    »Geringschätzung ist ein zu starkes Wort«, sagte Schostakowitsch. »Ich kann nur den Anblick von Musikern nicht ertragen, die sich zu Mahler hin und her wiegen und den Eindruck machen, als würden sie gleich in Tränen ausbrechen.«
    Elias nickte. »Ich habe eine Flötistin, die ich den menschlichen Schneebesen nenne. Sobald man ihr Schumann-Noten hinstellt, fängt sie an sich zu wiegen. Kopf,Schultern, Fußgelenke, alles muss andauernd in Bewegung sein – als würde dadurch auch ihr Spiel bewegender!«
    Jetzt nickte Mrawinski, der in dem warmen flackernden Licht noch besser aussah als sonst. »Ich habe auch ein paar solche Kandidaten. Musiker, die sich selbst für die größte Attraktion des Abends halten. Sehr lästig.«
    Schostakowitsch sah Elias an. »Sie hätten zu den Treffen des Konservatoriumsklubs kommen sollen. Debatten wie diese waren unser tägliches Brot. Und jetzt ist es zu spät! Wer weiß, wann wir uns wieder dort versammeln?« Seine Brille beschlug, und er ergriff Elias’ Hand.
    »Vielleicht nach dem Krieg –?« Elias wirkte überwältigt.
    »Dmitri«, sagte Sollertinski, »du bist unmöglich. Gefühle bei anderen findest du abstoßend, dabei bist du selbst der gefühlsseligste Mann, den ich kenne. Du predigst eisige Zurückhaltung in der Musik, obwohl du zurzeit an etwas arbeitest, mit dem du ganz Russland aufzurütteln – und vielleicht zu retten –

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