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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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zumute war. »Ich bin sehr besorgt«, gab er zu. »Meine Solisten sind unter pari, die Konzentration ist schwach. Unsere Proben klingen wie die einer dürftigen Blaskapelle in der Provinz. Und dabei sollen wir in sechs Wochen Tschaikowskis Fünfte nach England übertragen!« Er schaute in sein leeres Glas. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken holen?«
    Doch auf einmal stand noch jemand neben Nina und berührte sie an der Schulter. Es war Nikolai.
    »Hallo!« Nina lächelte strahlend. »Ich dachte, Sie wollten nicht kommen!«
    Elias hatte ein ihm ganz und gar unbekanntes Gefühl im Magen, das ihn völlig verwirrte. Mit einem halbherzigen Lächeln grüßte er Nikolai und sah sich nach einer weiteren Flasche um – egal was –, obwohl er wusste, dass er es bereuen würde.
    Nikolai sah erschöpft aus, seine Stirn war faltiger, sein Bart spärlicher denn je. »Ja, stimmt, aber dies ist womöglich auf längere Zeit das letzte Treffen der Leningrader Kulturwelt. Wie könnte ich es mir verzeihen, meinen Freunden nicht auf Wiedersehen gesagt zu haben?«
    Schnell goss Elias Wodka in drei Gläser. »Ein Toast auf scheidende Freunde. Ende des Monats werden Sie beide fort sein, und ich bleibe hier. Aber die räumliche Entfernung kann treuen Seelen wenig anhaben!« Noch nie hatte er so kühn und überschwänglich gesprochen.
    Nikolai hob sein Glas und leerte es, als merkte er kaum, was er da trank.
    »Die Empfindung ist wahr, aber die Fakten stimmen nicht«, sagte Nina Bronnikowa. »Ich bleibe auch hier.«
    »Sie bleiben?« Elias’ beschwipstes Herz hüpfte.
    »Ich habe schon vor Monaten beschlossen, in Leningrad auszuharren, komme, was wolle. Das Kirow ist zwar wie meine Familie, aber Leningrad ist meine Heimat. Wenn das Ballett die Stadt verlassen hat, kann ich mit den anderen Frauen hier arbeiten.«
    »Halten Sie das wirklich für klug?«, fragte Nikolai. »Ganz abgesehen davon, dass es den Behörden missfallen wird – wer weiß, wie es hier weitergeht? Nowgorod ist schon gefallen; die Luga-Front bröckelt und weicht zurück. Wenn die Deutschen weiter vorrücken und wenn sie sich mit den Finnen verbünden, nun, dann ist Leningrad ganz und gar umzingelt.«
    »Wer kann schon sagen, ob wir besser beraten wären, nach Taschkent zu fliehen?«, sagte Nina. »Oder sonst wohin. Hitler scheint doch eine Art Wahnsinniger zu sein, der nicht ruhen wird, bis er um die ganze Welt marschiert ist.«
    »Ich würde lieber nicht so reden, selbst hier nicht«, sagte Elias. »Mein erster Klarinettist hat Nachbarn, die –« Er spürte, wie sein neues Selbstvertrauen beim Gedanken an Cholodows gepeinigte Miene ins Wanken geriet. »Bitte entschuldigen Sie mich.« Er steckte sich das leere Glas in die Jackentasche und eilte davon.
    Hinter der schweren Toilettentür herrschte kühle weiße Stille. Einen Moment lang stand er regungslos da und starrte sein Spiegelbild an; dann holte er seinen Kamm heraus und versuchte, seine Haare zu ordnen. »Du bist sternhagelvoll«, sagte er streng, wenngleich mit etwas schwerer Zunge.
    »Verzeihung?« Ein alter Mann tauchte neben ihm auf. »Was haben Sie gesagt?«
    »Ich sagte, es ist ganz schön voll! So ein Gedränge habe ich hier noch nie erlebt.« Was daran liegt , sagte der nüchterne Teil seines Verstands, dass du noch nie hier warst .
    »Ein Gedränge, in der Tat.« Der alte Mann wusch sich mit großer Sorgfalt die Hände. »Sollertinski hat schon immer die Massen angezogen. Wenn er nicht Musikwissenschaftler wäre, gäbe er einen erfolgreichen Zirkusdirektor ab.« Er beäugte Elias. »Herr Eliasberg, nicht wahr? Dirigent des Rundfunkorchesters?« Er streckte ihm eine rissige Hand entgegen. »Ich bin Professor Lopatkin vom Konservatorium.«
    »Guten Abend.« Elias gab sich alle Mühe, seinen Blick scharf zu stellen. »Ich habe Sie natürlich schon oft gesehen. Nett, Sie endlich kennenzulernen.« Als der Professor sich höflich verabschiedet hatte, war er wieder allein und fuhr fort, sich im Spiegel anzustarren. Irgendwo hinter seiner hohen Stirn und den schmalen Wangen lauerte das Gesicht seines Vaters: größer, schwerer, aber mit einem ähnlich entschlossenen Kinn. »Du magst zwar betrunkensein«, sagte er zu seinem schwankenden Spiegelbild, »aber du gehörst dazu. Zumindest heute Abend bist du einer von ihnen.«
    Schostakowitsch fühlte sich schon besser. Er hatte exzellenten, mit Thymian gewürzten Hasen gegessen und aufgehört, die Wodkas zu zählen, die er während einer erregten Debatte über

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