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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Dreck herumzuwühlen.«
    »Wenigstens bist du dann wieder am Konservatorium. Wenn auch auf dem Gebäude anstatt drin!«
    Schostakowitsch betrachtete Sollertinskis grobe Gesichtszüge – die große Nase, die hellblauen Augen, die breiten Wangen –, die alle zusammengenommen irgendwie ein attraktives Ganzes ergaben. »Ja, ich werde wieder dort sein, aber ohne dich.« Der feurige Wodka und die kraftspendende Wirkung des Biers verschwanden wie eine in den Wolken versinkende Sonne. Was blieb, waren böse Vorahnungen.
    »Ja, ich werde eine Weile nicht hier sein«, sagte Sollertinski. »Aber kein Krieg dauert ewig. Vielleicht treffen wir uns viel früher als erwartet wieder – wenn nicht in Sibirien, dann in besseren Tagen im Klub, wo du deine Schroffheit wiedergutmachen und dem Rundfunkdirigenten einen Drink spendieren kannst.« Er blickte auf Schostakowitschs Teller. »Darf ich? Du rührst diesen exzellenten Kaviar ja doch nicht an, und morgen wird er den Schweinen vorgeworfen.«
    Schostakowitsch reichte ihm seinen Teller. »Ich habe Angst. Angst, dass ich dich nie wiedersehen werde.« Er sah seinem Freund lange und fest in die Augen.
    »Arbeite einfach weiter an deinem geheimnisvollen Werk«, sagte Sollertinski. »Lösch ein paar Feuer, um dein nationalistisches Gewissen zu beruhigen, und dann kommst du zu mir nach Sibirien. Es ist vielleicht nicht das attraktivste Urlaubsziel, das man sich vorstellen kann, aber die Mädchen dort sollen hübsch sein.«
Sie geht nicht
    Elias erwachte mit einem ungewohnten Gefühl. Sein Magen rumpelte wie ein schwer beladener Wagen auf Kopfsteinpflaster, seine Lider kratzten. Schweiß bedeckte seinen ganzen Körper: Stirn, Brust, selbst die Rückseite seiner Beine. Er wälzte sich auf die Seite und streckte die Hand nach Nina Bronnikowa aus. Sie war nicht da.
    Das Licht, das durch die dünnen Vorhänge kam, war zu hell, das Gehämmer und Geschepper auf der Straße verschlimmerte seine Übelkeit. Nina! Stöhnend machte er die Augen wieder zu, um die jüngste Wirklichkeit auszublenden und den noch kürzer zurückliegenden Traum. Wie er Nina Bronnikowas Arm genommen und sie auf die Tanzfläche führte (Wirklichkeit). Ihre kühle Hand in seiner klebrigen, ihre Beine, die sich dicht an seinen bewegten (Wirklichkeit). Wie seine Finger ihr über das Gesicht strichen, ihre Lippen sich trafen, seine Hand über ihre bloßen Schultern wanderte, hinunter bis zu ihrem nach innen gewölbten Kreuz, und ihr Körper vor Lust bebte. Traum. Traum. Traum. Voller Selbstverachtung rammte er das Gesicht ins Kissen.
    Als seine Erektion abgeklungen war, drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke, auf den großen stiefelförmigen Fleck, der drei Winter zuvor durch eine geplatzte Wasserleitung entstanden war. Natürlich sah er für ihn wie ein Stiefel aus; er würde seiner Erziehung nie entkommen. Vielleicht war einem nur ein flüchtiger Blick in ein mögliches besseres Leben gestattet, bevor man wieder in die Grube fiel, wo man hingehörte? Gott, diese Übelkeit, die Frustration und die Schuldgefühle – und die neue Verbitterung, die brannte wie ein entzündeter Schnitt. Sollertinski hatte den Köder ausgelegt; Elias – naiv und vertrauensselig – hatte ihn geschluckt. Und war von Schostakowitsch wie eine kümmerliche Sprotte wieder in den See geworfen worden.
    Nina Bronnikowa . Er wiederholte ihren Namen wie ein Mantra. Nina Bronnikowa . Die Innigkeit, die er beim Aufwachen empfunden hatte, rührte von nichts weiter als sexuellem Verlangen und lächerlichen romantischen Gefühlen her. »Möchten Sie tanzen?« Mehr hatte sie nicht gesagt. Er wusste sofort, dass sie ihn aus Mitleid aufforderte, aber seine Zunge hatte sich durch den Alkohol – und auch durch die Erleichterung, Schostakowitschs unerwarteterAttacke, Mrawinskis kühlem, bohrendem Blick und Sollertinskis Scherzen entkommen zu sein – gelöst. Also hatten sie geplaudert – worüber? Über ihre Datscha im Süden der Stadt, die die Großeltern ihr hinterlassen hatten, nachdem ihre Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen waren. Jetzt stand sie leer: Datschabesitzer hatten den Befehl erhalten, alle Feldfrüchte und Vorräte zu vernichten, damit sich der Feind nicht davon ernähren konnte. Was hatte Nina gemacht, als sie zum letzten Mal dort weggegangen war? Sie hatte die Tür und das Gartentor abgesperrt und war mit Marmelade und Sauerkonserven im Korb sowie einem Sack Kartoffeln auf dem Rücken in die Stadt zurückgeradelt. Am

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