Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
Kontrollpunkt hatten Soldaten ihre Sachen durchsucht und ihr mitgeteilt, sie dürfe hier in Zukunft nicht mehr passieren. »Lauter Torschlüsse«, sagte sie. »Lauter Rückzüge.« Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Augen sahen traurig aus. Schnell erzählte Elias ihr von einer Probe, auf der Fomenko so heftig auf die Kesselpauke gehauen hatte, dass die Spitze seines Trommelstocks abgebrochen, elegant von Martschyks Glatze abgeprallt und in den offenen Schlund seiner Tuba geflogen war. Nina lachte darüber, woraufhin er sah, dass ihre Zähne ein wenig schief standen, und er sie fast wegen ihrer wunderschönen Unvollkommenheit geküsst hätte.
    Gott, war ihm schlecht. Er versuchte, sich aufzusetzen, aber das Zimmer drehte sich. Er musste doch zur Arbeit! Vorsichtig griff er nach seiner Armbanduhr – da ertönte im vorderen Zimmer ein schriller Schrei.
    »Ich gehe nicht!« Das war seine Mutter, und es klang, als sei sie in echter Bedrängnis.
    Sobald er die Beine über den Bettrand schwang, brach ihm auf dem Rücken schon wieder der Schweiß aus. Automatisch sah er auf die Uhr: weniger als eine Stunde bis zur Probe.
    »Karl! Karl!« Seine Mutter klang panisch. »Um Himmels willen, so hilf mir doch!«
    Er zog sich seine Jacke über und stolperte nach nebenan. »Was denn, Mutter? Was zum Teufel ist hier los?«
    Mitten im Zimmer stand Olga Schapran. Sie beugte sich über Elias’ kreischende Mutter und zog an ihr, hob sie fast aus dem Stuhl.
    »Was in Gottes Namen machen Sie da?« Elias’ Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren.
    Olga sah ihn missbilligend an, musterte seine nackten Füße, sein zerzaustes Haar. »Ich habe versucht, Sie zu wecken. Sie haben geschnarcht wie ein Schwein. Sie müssen mir helfen – Ihre Mutter soll in weniger als zwei Stunden am Bahnhof sein.«
    »Heute?« Er blickte auf den Kalender über dem Herd. »Sie irren sich. Der Zug fährt nächste Woche, nicht heute.«
    »Der Zeitplan wurde geändert. Sie waren offenbar zu sehr mit Trinken beschäftigt, um die Nachrichten zu hören.« Olga begann wieder an seiner Mutter herumzuzerren. »Stehen Sie auf. Ziehen Sie sich an. Oder möchten Sie Leningrad im Nachthemd verlassen?«
    »Lassen Sie sie in Ruhe!« Elias’ Übelkeit wurde durch seine heftige Abneigung gegenüber Olga, die sich derart aufdringlich in ihre Angelegenheiten einmischte, noch schlimmer. »Ich helfe ihr beim Anziehen. Nicht nötig, dass Sie ihr so zusetzen.«
    »Ich wollte ja nur behilflich sein.« Olgas Mundwinkel wanderten noch weiter nach unten, bis sie wie eine große listige Forelle aussah. »Ich kümmere mich eben um meine Nachbarn. Wenn ich nicht wäre, hätten Sie die Chance Ihrer Mutter, evakuiert zu werden, beide verschlafen. Die eine aus Altersgründen und der andere« – sie beäugte Elias argwöhnisch, als ahnte sie etwas von seinen lüsternen Träumen – »aufgrund von Zügellosigkeit.«
    Frau Eliasberg jammerte und rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Dies ist mein Zuhause. Ich lasse mich nicht evakuieren wie einen Flüchtling. Ich möchte hierbleiben, in dem Viertel, wo ich hingehöre.«
    »Mutter.« Elias zupfte ihren Wollschal zurecht. »Wir haben das doch alles schon durchgesprochen. Die Lage wird mit jedem Tag brenzliger. Hast du in letzter Zeit mal einen Blick auf die Straße geworfen? Sie ist nicht wiederzuerkennen. An deiner Kreuzung steht eine mit Sandsäcken gefüllte Straßenbahn. Dein Park hat sich in einen Schützengraben verwandelt. Deine Bäume sind zum Versteck für Scharfschützen geworden.« Er trat ans Fenster und zog die Jalousien hoch, obwohl ihm von dem stechenden Licht noch schlechter wurde.
    Seine Mutter verdrehte die Augen. »Ich bin zu krank zum Reisen.« Sie streckte eine flatternde Hand aus. »Seht ihr, wie ich zittere?«
    Triumphierend wandte Olga sich Elias zu. »Sehen Sie? Sie wird gebrechlich. Und genau deshalb müssen wir sie hier herausschaffen und in den besagten Zug setzen. Sie waren bei der letzten Fliegeralarmübung ja nicht da, Sie haben keine Ahnung, was wir mit Ihrer Mutter durchgemacht haben.«
    »Nein, ich war nicht da. Insoweit haben Sie recht. Ich habe gearbeitet, habe meine Pflichten als Bürger Leningrads erfüllt.« Er sprach mit größtmöglicher Kälte, während er versuchte, das Brodeln in seinen Eingeweiden zu ignorieren.
    »Wären Sie dagewesen, dann hätten Sie gesehen, dass es fast unmöglich ist, eine alte Frau auf einem Stuhl vier Stockwerke hinunterzutragen. Zum Glück waren wenigstens

Weitere Kostenlose Bücher