Dirigent
binden, wurde ihm klar, dass er nicht mehr wusste, was sich hinter den Brettern verbarg. Er war immer viel zu sehr in Eile gewesen, wenn er zum Konservatorium oder von dort wieder nach Hause hetzte.
Plötzliches Getöse ließ ihn zusammenfahren. Tanklaster, auf deren Dächern Fahnen flatterten – »Verteidigt die Errungenschaften der Oktoberrevolution!« –, rumpelten über den Platz in Richtung Bahnhof. Schostakowitsch erhaschte einen Blick auf die Gesichter der Männer hinterden gestreiften Windschutzscheiben und erkannte, dass manche von ihnen kaum älter als siebzehn oder achtzehn waren. Was bedeutete die Revolution für sie? Jetzt würden sie selbst eine Schlacht erleben, von der sie später Geschichten erzählen konnten – sofern sie denn überlebten. Er wischte sich mit der Hand über die Augen und eilte weiter.
Als er nach Hause kam, war es in der Wohnung still und dunkel. Ganz leise legte er den Helm in eine Ecke und zog sich die Stiefel aus. Die Schlafzimmertür blieb geschlossen.
Er ging auf Zehenspitzen zur Anrichte. Die oberste Schublade war abgesperrt: Hing der Schlüssel noch im Geschirrschrank? Behutsam öffnete er die Schranktür und tastete an der Wand entlang. Eine Tasse trudelte zur Kante des Regals, gerade noch rechtzeitig fing er sie auf. Gott sei Dank! Die Tür hinter ihm blieb geschlossen – da fühlte er ihn unter seinen Fingern, den kleinen Eisenschlüssel, die Konturen kommender Arbeit. Sein Magen entkrampfte sich.
Kaum hatte er die Schublade aufgesperrt, flog die Schlafzimmertür auf, und Maxim kam in seinem Baumwollnachthemd laut und wütend herausgestürmt. »Ich will nicht mehr im Bett bleiben!«
Hinter ihm tauchte Nina auf, das Haar zu einem glänzenden Pferdeschwanz zusammengebunden. »Tut mir leid. Ich habe mein Möglichstes getan.« Halb entschuldigend, halb trotzig tappte sie durchs Zimmer und begann die Verdunkelungsvorhänge von den oberen Fenstern loszuhaken.
Nun erschien auch Galina, deren Gesicht beim Anblick ihres Vaters aufleuchtete. Sie wirbelte vor ihm im Kreis herum und begann ein wenig geziert zu singen. (Das war Sollertinskis Schuld; seit er verkündet hatte, sie habe eine vielversprechende Stimme, zog sie das Singen dem Sprechen vor.) »Wo war Papa die ganze Nacht?«, sang sie. »Ob ihm mein Liedchen Freude macht?«
Schostakowitsch gab sich Mühe zu lächeln. »Ja, es macht ihm Freude, aber er ist sehr müde. Papa war die ganze Nacht auf einem Dach und hat nach Bränden Ausschau gehalten, und nun muss er an seiner Musik weiterarbeiten.«
»Fänd ich nirgends Brände vor«, säuselte Galina, »sänge ich in einem Chor.«
»Ich hab Hunger«, jammerte Maxim. »Verdammten Hunger.«
»Rede anständig«, sagte Nina, »sonst kannst du den ganzen Tag hungrig bleiben.« Sie kochte gleichzeitig Wasser, rührte Haferbrei an und kämmte Galina die Haare. Schostakowitsch, der sie beobachtete, fand, dass sie wie eine schöne vielhändige Madonna aussah.
»Wie war die Nacht?« Sie blickte sich zu ihm um. Die Frage war scharfkantig, so als hoffte sie, die Bombardierungen hätten endlich angefangen, ein leuchtender weißer Schauer sei auf Leningrads Dächer niedergegangen und hätte sich zu einem Lauffeuerfeld verbunden. Denn sobald die Deutschen die ersten Bomben abwarfen, wären selbst so dickköpfige Patrioten wie ihr Mann gezwungen, die Stadt zu verlassen.
Er dachte an die Nacht zurück, die er gerade unter dem samtenen Augusthimmel verbracht hatte. Der Mond, so tief und groß, dass er ihn wie ein Pendel hätte zum Schwingen bringen können. Die vertrauten Straßen ein fremdes Gemälde, Brunnen und Gebäude wie von Licht umrahmte Scherenschnitte. In weiter Ferne waren gelegentlich andere Lichter aufgeblitzt: deutsches Geschützfeuer und die sowjetische Antwort darauf. Doch auch das schien irreal, nicht mehr als ein Operneffekt. Auf dem Dach des Konservatoriums waren ihm die Stunden zerflossen, und als die aufgehende Sonne den Himmel im Osten befleckte, hatte Schostakowitsch mehrere Leben durchlebt.
Benommen sah er Nina an. »Es war ruhig. Ja, ausgesprochen ruhig. Vielleicht können unsere Truppen Mga doch halten, und die Deutschen müssen sich zurückziehen.«Eine Melodie war in seinem Kopf, die mit dem hellen Mond und der Stille verknüpft schien, doch sie drohte ihm zu entgleiten.
»Hörst du eigentlich überhaupt zu, wenn sie im Radio von der Lage berichten?« Nina knallte den Topf auf den Herd. »Oder schreibst du alles in deinem Kopf um, so wie es dir
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