Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
Frontlinien Leningrad immer enger einkreisten. Von Nina, die verlangte, dass sie fortgehen sollten. Davon, dass seine Konzentration nachlassen, er immer erschöpfter oder gar krank werden würde. Die Musik, die er in den vergangenen Wochen geschrieben hatte, war wie eine Dampflok, die sich ihm rasch von hinten näherte und ihn unerbittlich vorwärtstrieb. Es war schlimm genug, darüber nachzudenken, was er noch schreiben musste, auch ohne sich Sorgen darüber zu machen, worauf er es tun sollte. »Können Sie mir denn wirklich gar nichts geben?«
    Der Mann blätterte in den Geschäftsbüchern, als wollte er die schlechten Nachrichten hinauszögern. Schließlich blickte er auf. »Unsere Lieferungen wurden wohl fürs Erste unterbrochen.«
    Schostakowitsch seufzte. »Bitte versuchen Sie, etwas aufzutreiben, mit allen verfügbaren Mitteln. Es ist außerordentlich wichtig.«
    Der Angestellte, der miterlebt hatte, wie fast alle regelmäßigen Besucher des Verbands Leningrad verlassen hatten, war in den vergangenen Wochen immer trübsinniger geworden. Das Gebäude war ein Geisterschiff mit ihm als kläglichem, widerwilligem Steuermann, während sich draußen ein fürchterlicher Sturm zusammenbraute. Dochjetzt reckte er das Kinn. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie weiterhin komponieren ? Und dass es etwas Wichtiges ist? Ich nehme an, es wäre unverschämt, Sie zu fragen, um was es ... um was es sich handelt.« Sein Satz mündete in einem nervösen Piepsen.
    Scheppernd fiel Schostakowitsch der Schutzhelm aus der Hand. »Ich bin mir nicht sicher. Das heißt, ich kann nicht darüber sprechen.« Nachdem er sich gebückt, sich mit dem Kopf am Tisch gestoßen und den Helm aufgehoben hatte, war seine Abneigung gegenüber dem Angestellten perfekt. Seine Frau und sein bester Freund: Sie waren die Einzigen, die eventuell das Recht hatten, sich nach seinem noch nicht vollendeten Werk zu erkundigen. Aufgrund früherer Erfahrungen stellten ihm allerdings weder Sollertinski noch Nina im Moment viele Fragen. Warum sollte irgendein mickriger, hinter einem Schreibtisch hockender Trottel erfahren, was Schostakowitsch in seiner groben schwarzen Notenschrift bisher hingekritzelt hatte?
    »Setzen Sie Himmel und Erde in Bewegung, um mir Papier zu besorgen«, sagte er schroff.
    »Ich werde mir Mühe geben. Wie ich höre, arbeiten Sie jetzt beim Brandschutz?«
    »Ja, ich halte Wache auf dem Dach des Konservatoriums.«
    »Wie paradox!« Der Mann sah ihn ergeben an. »So lange haben Sie unsere Stadt aus dem Inneren dieses Gebäudes heraus bereichert, und nun beschützen Sie uns auf seinem höchsten Punkt.«
    Schostakowitsch wünschte sich sehnlichst, jemand möge ins Zimmer kommen und ihn retten. Aber der Verband, einst voller Menschen, die er lieber mied, war erschreckend leer. »Ja, das ist wohl paradox«, murmelte er.
    Der Mann wirkte jetzt regelrecht beflügelt. Noch nie zuvor hatte sich ihm die Chance geboten, so lange mit Schostakowitsch zu sprechen! »Ich hoffe, bald zu Ihnen zu stoßen, vielleicht schon nächste Woche. Da die Mehrzahlunserer besten Musiker fortgegangen ist, bleibt mir hier fast nichts mehr zu tun. Und an die Front kann ich wegen einer gewissen körperlichen Behinderung nicht gehen.« Er streckte ein dünnes Bein aus. »Kinderlähmung. Mit sechs Jahren. Meine Mutter fürchtete damals um mein Leben – aber nun ist es womöglich meine Rettung.«
    »Ihre Extremitäten, meine Augen.« Schostakowitsch sprach jetzt mit jener einschüchternden Förmlichkeit, auf die er sich verlegte, wenn die Menschen ihm allzu vertraulich wurden. »Die Brandbomben, die auf unsere Stadt niedergehen, werden von Wracks und Krüppeln abgewehrt.«
    »In der Tat. Auch wir haben einen Beitrag zu leisten.« Der Gesichtsausdruck des Mannes war beinahe kokett.
    Schostakowitsch trat den Rückzug an. Der Sog der Kameradschaft, für andere so reizvoll, löste in ihm einen beinahe physischen Widerwillen aus. »Ich muss gehen«, sagte er abrupt. »Auf mich wartet Arbeit, auch wenn ich zu wenig Papier habe, auf dem ich sie tun könnte.«
    Auf den in frühes Sonnenlicht getauchten Straßen war es relativ ruhig. Die Panzer waren mit Planen zugedeckt, und die mitten auf den Kreuzungen umgestürzten Straßenbahnen wirkten, als schliefen sie. Um die Sockel von Statuen herum waren Sandsäcke aufgehäuft, während zugenagelte Denkmäler wie sperrige Archen auf dem Kopfsteinpflaster zu treiben schienen. Als Schostakowitsch sich neben eines kniete, um sich den Schuh neu zu

Weitere Kostenlose Bücher