Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
Vom Netzwerk:
passt?«
    Galina schmiegte sich wie eine Katze an Schostakowitschs Beine. »Was hast du da in der Hand?«
    Während er ihr glattes Haar streichelte, spürte Schostakowitsch, wie die ersten Wellen der Müdigkeit über ihm zusammenschlugen. Vielleicht sollte er sich eine Stunde hinlegen und ein wenig Energie für die vor ihm liegende Aufgabe sammeln? »Etwas, was mein Papa gemacht hat. Als ich ein Junge war und er als Ingenieur gearbeitet hat.«
    »Wofür ist das?« Neugierig beäugte Maxim das spinnenartige Ding und vergaß seinen Hunger.
    »Damit kann man fünf Linien gleichzeitig zeichnen, um Notenpapier herzustellen. Ich brauche welches, weil sie beim Komponistenverband keins mehr haben und ich meinen Marsch fertig komponieren muss.« Der letzte Satz ging hauptsächlich an Ninas Adresse: eine Erklärung ohne lästige Einzelheiten.
    »Deinen Marsch? Den mit dem Bum-Bum-Knall, den wir auf dem Klavier gehört haben?«
    »Er wird nicht mit einem Knall enden, Galja.« Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf seine Arbeitszimmertür. »Sondern mit einem Seufzer und vielleicht mit ein paar Tränen. Er wird still und leise enden – sofern mir ein bisschen Stille vergönnt ist, um ihn zu einem Ende zu bringen.«
    »Hast du wirklich kaum noch Papier?« Nina hatte seine Bitte also gehört! Vielleicht durfte er die Küche jetzt verlassen, gegen sein Schlafbedürfnis ankämpfen und die leisen Klänge anlocken, die er ein paar Stunden zuvor vernommen hatte.
    »Ja, weiß Gott, wofür sie das Notenpapier brauchen.Wahrscheinlich hat der Flachkopf Prokofjew einen ganzen Stapel mit in den Kaukasus genommen, um seinen Quatsch daraufzukritzeln. Und den Rest hat Kchatschaturjan mit in den Ural geschleppt. Genauso gut könnte man es als Klopapier benutzen.« Er sagte es leichthin. Wenn er Nina auf seine Seite ziehen konnte und sei es nur vorübergehend, ging es ihm immer gleich besser.
    Sie stellte Becher auf den Tisch, legte Löffel aus. »Isst du mit uns?«
    »Ich habe keinen Hunger. Ich habe in der Verbandskantine etwas bekommen.«
    »Ach ja?« Nina musterte ihn eingehend. »Was gab es da – Notlügen mit Zwiebeln? Du wirst immer dünner, du musst etwas essen.«
    »Hör auf mit dem Theater!« Er verlor die Geduld. »Ich habe Arbeit zu erledigen. Und die ist verdammt viel wichtiger, als auf einem Dach zu sitzen und nach nicht existierenden Bombern Ausschau zu halten.«
    Er verschwand in seinem Arbeitszimmer, knallte die Tür zu und verbarrikadierte sie mit einem Stuhl. Versuch nicht hereinzukommen , betete er, als er den Klavierdeckel aufklappte. Für Vorwürfe und Entschuldigungen hatte er einfach nicht genug Zeit.
    Viel später hob er den Kopf. Er hörte ein Hämmern – aber es war nicht der Basso ostinato seiner Geigen, wie er zuerst dachte. Es kam eindeutig von außen.
    Mit einem Seufzer ging er ins große Zimmer hinüber. Es war leer und ordentlich. Das Geschirr war weggeräumt. Die Überschuhe der Kinder standen nicht mehr neben der Tür. Das stürmische Geklopfe ging weiter.
    »Wer ist da?«
    »Dmitri!« Die Stimme klang vertraut. »Ich bin’s! Bitte machen Sie auf!«
    Alarmiert riss er die Tür auf. »Nikolai! Was um Himmels willen ist passiert? Sind die Deutschen in der Stadt?«
    Nikolai kam hereingestolpert und ließ sich schwer atmend auf einen Stuhl fallen. Er sah aus, als wäre er den ganzen Weg von seiner fünfzehn Häuserblocks entfernten Wohnung gerannt. »Es geht um Sonja! Meine ... Sonja.«
    »Nein! Bitte sagen Sie mir, dass sie in Sicherheit ist. Wurde Pskow angegriffen?«
    »Sie ist gar nicht dort angekommen! Ich habe es eben von der Schwester meiner Frau gehört. Der Zug ist nie in Pskow eingetroffen! Zuerst dachte man, er habe Verspätung – das ist nichts Ungewöhnliches, manche Züge haben tagelang auf Nebengleisen gestanden und auf Entwarnung gewartet. Aber jetzt –« Tränen liefen ihm über die Wangen, so still wie Regen. »Jetzt ist es schon eine Woche her, dass er Leningrad verlassen hat, und es gibt Berichte über einen deutschen Angriff auf die Strecke nach Pskow. Sie können nicht sagen, welcher Zug getroffen wurde, aber es ist wahrscheinlich –« Er hielt inne, legte den Kopf auf den Tisch und weinte so heftig, dass das Holz unter der Last seines Kummers knarrte.
    Schostakowitsch stand unschlüssig neben ihm. »Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Diese Berichte sind oft barer Unsinn – neunzig Prozent Gerüchte, zehn Prozent Hörensagen. Sie wollten doch ans Konservatorium in Taschkent, oder?

Weitere Kostenlose Bücher