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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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kaum eine Ahnung, wo ihr eigenes Gehirn ist.«
    »Ich verstehe, was Sie meinen.« Nikolai ließ den Kopf hängen. »Es ist hoffnungslos, natürlich. Aber ich muss trotzdem weitersuchen.«
    »Es ist nicht hoffnungslos«, entgegnete Schostakowitsch, »und Sie müssen unbedingt weiter hoffen. Als ich Sonja spielen hörte, war ich sicher, dass sie eine große Zukunft vor sich hat. Das spüre ich noch immer, und mein Instinkt trügt mich selten.«
    »Immerhin habe ich das Cello. Vielleicht führt es sie ja wie der Scheinwerfer eines Leuchtturms nach Hause.« Doch Nikolai ging zur Tür wie ein Blinder, die Hände vor sich ausgestreckt, als müsse er aufpassen, dass er nicht stürzte.
    Wieder in seinem Arbeitszimmer, saß Schostakowitsch ein paar Minuten mit bebenden Schultern am Schreibtisch. Dann wischte er sich das Gesicht am Ärmel ab, nahm das wacklige selbstgemachte Gerät seines Vaters zur Hand und begann auf die Rückseite alter Kompositionsaufsätze Notenlinien zu zeichnen, als hinge sein Leben davon ab. Die Metallspinne bewegte sich schwerelos und krummbeinig über das Papier und zog schwankende Fäden. Seite um Seite, in einem besänftigenden Rhythmus, bis das Chaos der Welt auf fünf saubere, wenn auch unregelmäßige Linien reduziert war.

TEIL III
    HERBST 1941
Der Niedergang
    Der September war kalt und grau. Tag für Tag versteckte sich die Sonne hinter dicken Wolken, als hielte sie den Anblick deutscher Panzer, die vor den Toren Leningrads bereitstanden, nicht aus. Die Dringlichkeit des Sommers war einer merkwürdigen Lethargie gewichen, die alles in der Stadt wie Moos überzog. Alltägliche Verrichtungen wechselten mit nicht alltäglichen, aber ob die Menschen sich nun in Brotschlangen vorwärtsschoben oder sich im Granatenwerfen übten, immer sprachen sie mit flacher Stimme, und ihre Gesichter waren so matt wie der metallgraue Himmel.
    Schostakowitsch fühlte sich zunehmend zerschlagen. Die Beine taten ihm weh, und hinter seinen Augen lauerte ein beständiger Schmerz. »Vielleicht liegt es daran, dass ich bald fünfunddreißig werde«, sagte er zu Nina. »Ich bin ein alter Mann.«
    »Jeder, der die ganze Nacht Wache hält und den ganzen Tag komponiert, würde sich alt fühlen. Außerdem geht es dir immer schlecht, wenn du schreibst. Sobald du mit diesem Werk fertig bist, wird alles wieder gut.«
    »Sobald ich fertig bin! Das Problem –« Er nahm einen glühend heißen Schluck Tee, sah zu Nina, die Kartoffeln schabte, und stürzte sich in ein Geständnis; er hoffte, dass es kein Fehler war. »Dies ist nur der erste Satz. Auch wenn er womöglich in ein paar Tagen fertig ist, muss ich noch einen zweiten schreiben und einen dritten und vierten.«
    »Wird es ... eine Sinfonie?«
    »Ich fürchte, ja. Man sollte meinen, fünfundzwanzig Minuten Donner und Blitz wären genug. Aber vor ein paar Tagen musste ich erkennen, dass da noch mehr kommt.« Beinahe ärgerlich dachte er an diesen Moment zurück. Als er einen Eimer Sand die steile Treppe zum Dach des Konservatoriums hinaufgeschleppt hatte, war der Verdacht in ihm zur Gewissheit geworden. Das letzte Grollen des Hauptthemas, der in der Ferne verschwindenden Panzer, war nicht das Ende. Es gab noch mehr zu schreiben.
    Nina stieß einen kleinen Seufzer aus. Vielleicht erinnerte sie sich an die letzten Stadien der Sechsten Sinfonie, als er in eine so schwere Depression verfallen war, dass er nicht mehr aus dem Bett gefunden hatte. Sie rührte Mehl in die geriebenen Kartoffeln und verzog das Gesicht. »Ich könnte ein Ei gebrauchen.«
    »Und ich ein Scherzo«, sagte er trübsinnig. »Dann ein Adagio, dann ein Finale. Wunderbar.«
    »Vielleicht erlebst du noch eine freudige Überraschung. Immerhin hatte die Sechste am Ende nur drei Sätze.«
    Er spielte mit seinem Glas, drehte es in den Fingern, beobachtete, wie die klare Flüssigkeit darin herumwirbelte.
    »Es wird sicher alles gut – und dann geht es auch dir wieder besser.« Sie drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
    Schostakowitsch knurrte. Er mochte es nicht, wenn man ihm so etwas sagte, schließlich wusste er ganz genau, dass es ihm nie wieder gut gehen würde. Von der ständigen nervösen Energie, die ihn antrieb, bekam er Durchfall (ungünstig, wenn man stundenlang ohne Wachablösung auf einem Dach festsaß). Vielleicht würde er mitten im Bombenhagel sterben, mit dem Arsch in einem Eimer. Ein passendes Ende für den prominenten sowjetischen Komponisten! Dann würde Stalin die

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