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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Fahren Sie wie geplant dorthin, und bestimmt bekommen Sie bald gute Nachrichten von Sonja.« Doch in seinem Kopf hallten noch die Töne wider, die er gerade niedergeschrieben hatte; die Paukenschläge hatten die Autorität eines Todesmarsches, und es fiel ihm schwer, seinen eigenen Worten zu glauben.
    »Ich kann jetzt nicht fortgehen«, sagte Nikolai und hob den Kopf. »Ich muss hierbleiben, falls sie irgendwie den Weg nach Hause findet.« Er trocknete sich die Augen und schnäuzte sich. »Ich muss mir eine Beschäftigung suchen, solange ich auf sie warte. Vielleicht kann ich in einer Munitionsfabrik arbeiten. Oder im Rundfunkorchester mitspielen.«
    »Das wird die Stimmung unseres schwermütigen Dirigenten sicher heben!« Schostakowitsch versuchte, nach dreißig Stunden ohne Schlaf nicht mehr allzu gewandt, zu scherzen. »Wenn einer der besten Geiger Russlands sich Elias’ stümperhafter Musiktruppe anschließt, wird ihm das zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt ein Lächeln entlocken.«
    Nikolais Schlucken war in dem stillen Raum schrecklich laut. »Ich bin nicht nur zu Ihnen gekommen, weil Sie mein Freund sind. Ich hatte auch gehofft, Sie könnten mir helfen, die Wahrheit herauszufinden.«
    »Welche Wahrheit?«
    »Darüber, was mit dem Zug passiert ist. Der Kreml hört immerhin auf Sie. Ihr Name ist bei den mächtigsten Leuten bekannt, nicht nur im Kultur-, sondern auch im Verteidigungsministerium.« Er richtete den Blick starr auf Schostakowitsch. »Ich bitte Sie – ich flehe Sie an . Würden Sie Ihre Stellung dazu verwenden, die Wahrheit über Sonja herauszufinden?«
    Eine leichte Brise rüttelte am Fensterrahmen. Schostakowitsch nahm die Brille ab und fing an, sie mit seinem Taschentuch zu putzen. »Es tut mir leid«, sagte er schließlich.
    Nikolai stand so hastig auf, dass sein Stuhl umkippte. »Ich habe Sie gekränkt! Wenn es nicht um Sonja ginge, hätte ich dergleichen niemals gefragt. Ich weiß, dass Sie es verabscheuen, die Partei um Privilegien zu bitten, ja, dass Sie es nicht einmal für sich selbst tun und die Leute verachten, die Ihren Einfluss auszunutzen versuchen. Ich weiß das alles, und ich bin sicher, Sie finden meine Anmaßung abscheulich. Aber es geht um Sonja – meine Sonja!« Er wich vor dem Stuhl zurück, als wäre es eine Leiche auf dem Schlachtfeld.
    »Bitte glauben Sie mir, Nikolai. Wenn ich irgendetwas tun könnte, um sie zu finden, wenn ich Telefonate führen oder Telegramme verschicken könnte, würde ich es aufder Stelle machen. Aber seit dem Tag, da die Deutschen unsere Grenzen überschritten haben, zählt mein Einfluss nichts mehr. Ich bekomme ja nicht einmal mehr Notenpapier, um meine Arbeit fortzusetzen. Stalin und seine Generäle konzentrieren sich auf militärische Strategien und nicht auf musikalische Belange. Im Augenblick bin ich, von offizieller Warte aus gesehen, kleiner als eine Ameise.«
    »Natürlich.« Nikolais hektische Flecken verblassten allmählich, sein Gesicht sah wächsern aus. »Sie haben recht. Ich klammere mich an Strohhalme.«
    »Wie es jeder tun würde, dem das Wasser bis zum Hals steht.« Tränen brannten in Schostakowitschs Augen; er dachte an Sonjas kleine Hand auf seinem Arm, als er sie auf dem Newski-Prospekt nach Hause begleitet hatte. War es möglich, dass der Zug, der sie in Sicherheit bringen sollte, nun ein Haufen verbogenes Metall war? Geborstene Waggons, über dem trockenen Boden verstreute Knochensplitter?
    »Ich muss gehen.« Nikolai klang schon entschlossener. Er hob den Stuhl auf und stellte ihn ordentlich an den Tisch. »Ich werde zur Prawda gehen und fragen, ob dort jemand etwas weiß. Es tut mir leid, wenn ich Sie beim Arbeiten gestört habe.«
    Schostakowitsch küsste ihn auf beide Wangen. »Nicht der Rede wert. Ich bin an Unterbrechungen gewöhnt. Sie wissen ja, wie es ist, zu arbeiten, wenn man Kinder –« Er biss sich auf die Lippe und sprach hastig weiter. »Selbst wenn ich General Schaposchnikow oder Marschall Woroschilow hieße, könnte ich Ihnen nicht helfen. Unsere Befehlshaber sind Meister des Chaos, die versuchen, Russland ohne einen Plan vor Augen und Erfahrung im Rücken zu lenken. Details werden ignoriert, der Blick über den Tellerrand verwirrt sie nur. Wir sind in den Händen von Dummköpfen und Idioten, weil unsere Armee durch unseren eigenen Führer dezimiert wurde. Sie glaubendoch nicht, dass die wichtigtuerischen Generäle, die die Säuberung überlebt haben, wissen, wo die Evakuierten sich befinden – sie haben ja

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