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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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Schikanen bereuen, die er über die Jahre verfügt hatte. »Genosse Schostakowitsch?«,würde er hinter seinem Walrossschnurrbart sagen. »Ich bedaure, einsehen zu müssen, dass ich ihn so lange gepiesackt habe, bis er ein nervliches Wrack war. Das war allerdings vor dem Krieg gegen Deutschland. Die Siebte Sinfonie war seine letzte; vor lauter Druck und Anstrengung hat’s ihm die Gedärme zerfetzt. Die Schwierigkeiten begannen 1936, als ich seine Oper falsch beurteilt habe, und endeten paradoxerweise auf dem Dach des Gebäudes, in dem er studiert hat. Von den Junkers mit heruntergelassener Hose erwischt, scheißend wie eine Brandbombe – so behalten wir unsere größten Männer ja nun nicht gern in Erinnerung –«
    »Was?« Er zuckte zusammen und landete wieder in der Gegenwart.
    Nina stand neben ihm und nahm ihm die Tasse aus der Hand. »Kannst du die Kinder hereinrufen? Wir essen in zehn Minuten.« Selbst in dem dumpfen Licht der mit Papier beklebten Fenster war ihre Erschöpfung deutlich zu erkennen.
    »Nina«, sagte er ernst. »Ich weiß, dass es dir lieber wäre, wenn wir aus Leningrad fortgehen würden, aber bitte versteh doch. Es scheint mir falsch, das sinkende Schiff wie eine Ratte zu verlassen.«
    Sie wandte das Gesicht ab. »Das klingt zunehmend wie eine Ausrede, damit du dich nicht so schlecht dabei zu fühlen brauchst, das Leben deiner Kinder aufs Spiel zu setzen.«
    »Eine Ausrede? Eine Ausrede? Ich glaube kaum, dass es als Ausrede taugt, Leningrad vor der verdammten Zerstörung zu retten!«
    »Dir geht es doch einzig und allein um deine eigene Rettung.« Ninas Stimme wurde lauter. »Du erträgst es nicht, deine Arbeit mittendrin zu unterbrechen. Du hast Angst, dass du den Faden verlierst, wenn wir jetzt gehen. Deine Musik ist dir wesentlich wichtiger als deine Familie oder dein Land. Warum sagst du nicht die Wahrheit?«Sie marschierte zum Fenster. »Galina, Maxim, kommt rein!«
    Schostakowitsch lehnte sich zurück. Natürlich würde ein Aufbruch seine Arbeit in Gefahr bringen. Er hatte es geschafft, dem Chaos um sich herum eine sonderbare Routine abzutrotzen, und er war sich nicht sicher, ob er weiter komponieren konnte, wenn er sie unterbrach. »Falls sie anfangen, uns zu bombardieren, wägen wir noch mal ab.« Nach dieser Ansage fühlte er sich besser: entschiedener, autoritärer, mehr wie das Oberhaupt einer Familie. »Granaten«, sagte er. »Und Bomben. Falls sie damit anfangen, ist womöglich die Zeit gekommen, unsere Sachen zu packen und zu gehen.«
Rette sich, wer kann
    Zwei Tage lang sprach niemand über etwas anderes als den ersten Artillerieangriff am südlichen Stadtrand. Mehrere Musiker kamen mit Horrorgeschichten zur Probe, die sie von Nachbarn oder Freunden von Nachbarn oder Nachbarn von Freunden gehört hatten.
    »Wie ›Meine beste Angelgeschichte‹«, sagte Alexander. »Die Granaten werden von Mal zu Mal größer und lauter.« Die Nachricht, dass der Brückenkopf bei Mga gefallen und die Eisenbahnstrecke östlich von Tichwin und Moskau sowie im Süden nach Luga abgeschnitten war, sodass nur noch die unsichere Verbindung über den Ladogasee blieb, schien ihn als Einzigen unbeeindruckt zu lassen. Obwohl die Brotrationen weiter eingeschränkt worden waren und die Lebensmittelvorräte kaum noch für einen Monat reichen würden und obwohl die deutschen Granaten jetzt auf Fabriken und Kirchen niederprasselten, Straßen aufrissen und Dächer in Brand setzten, lehnte Alexander sich behaglich auf seinem Stuhl zurück und machte Witze – auch wenn niemand lachte.
    An diesem Tag störte er die Probe mit weiteren Geschichten. »Juris Schwägerin war zum Einkaufen unterwegs«, sagte er mit theatralischer Stimme, »als sie plötzlich in der Ferne Geschrei hörte.«
    »Es war eher ein Stöhnen als Geschrei«, unterbrach ihn Katerina Ginka. »Wassili Smirnow hat mir erzählt, es klang wie eine Frau in den Wehen.«
    Alexander sah sie ärgerlich an. »Nun, als die Granaten fielen, wurde es sehr schnell zu Geschrei. Plötzlich prasselten sie überall auf die Straße und zerbarsten auf dem Pflaster wie Melonen. Menschliches Fleisch flog durch die Luft und klatschte an die Schaufenster der Geschäfte. Eine Frau verlor ihren Arm mitsamt Einkaufstasche, eine andere riss die Tasche aus der abgetrennten Hand und rannte damit weg.« Ein Keuchen und Stöhnen ging durch die Reihen. Alexander grinste. »Wie Juri sagte – nur eine Frau kann in so einem Moment an Vorräte denken.«
    Katerina warf ihm einen

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