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Dirigent

Dirigent

Titel: Dirigent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Quigley
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sich die Aktentasche über den Kopf und floh.
    Die Zeit verging in seltsamen sperrigen Blöcken. Einegefühlte Ewigkeit rannte er einfach immer weiter, dann taumelte er plötzlich durch eine gewaltige Eichentür und fiel ein paar Stufen hinunter. Im nächsten Moment lag er im Stockdunkeln auf dem Bauch, das Gesicht auf einem kalten Kachelboden, und konnte sich nicht mehr rühren. Ein älterer Mann drängte sich dicht an ihn, sein warmer, pfeifender Atem füllte Elias’ Mund und Nase.
    Wie lange waren sie dort? Es war schwer zu sagen; gedämpfte Geräusche von draußen, leises Geraschel, wenn sich drinnen einer bewegte – und um ihn herum totale Finsternis, die sein Gefühl der Körperlosigkeit noch verstärkte. Später konnte er sich nicht mehr erinnern, was er gedacht oder empfunden hatte. Der erste klare Moment kam, als in der Ferne die Entwarnungssirene heulte.
    Nach ein paar Minuten richteten die Leute sich schweigend auf und stapften die Treppe hinauf. Elias war als Erster auf der Straße. In der Nähe des Flusses stiegen Rauchsäulen auf.
    »So hatte ich es mir nicht vorgestellt.« Der Straßenbahnfahrer stand neben ihm und wischte sich Dreck und groben Staub von der Hose. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie uns so früh am Tag bombardieren würden – noch bevor wir unser Frühstück verdaut haben.« Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu seiner Straßenbahn.
    Elias blieb, fasziniert vom raucherfüllten Himmel, noch einen Moment stehen. Er machte sich selten genaue Vorstellungen davon, wie etwas sein würde, doch auch er war überrascht – nicht von der Kühnheit der Deutschen, sondern davon, dass er gerade einen Luftangriff erlebt hatte und nicht vor Angst schlotterte.
    Und seltsam war auch, dass das Leben einfach weiterging, dass die Straßenbahn noch da war und die Leute wieder auf die Straßen strömten, ihren Platz in den Brotschlangen einnahmen und sich stritten, wer zuerst dagewesen sei. Die Aktentasche immer noch fest in der Hand, stieg Elias in die Straßenbahn und setzte sich auf denselbenPlatz wie vorher. Doch als sie die Bolschaja-Puschkarskaja-Haltestelle erreicht hatten, war er nicht sicher, ob er aufstehen konnte; seine Beine fühlten sich an, als wären sie nicht mehr mit dem Rest seines Körpers verbunden. Er trat in den Gang und hielt sich am Handlauf fest.
    »Hier steigen Sie doch sonst nie aus!«, sagte die alte Reptilienfrau, deren geschürzte Lippen beinahe in ihrem runzligen Kinn verschwanden. »Sollten Sie nicht besser nach Hause fahren, um nach Ihrer Mutter zu sehen?«
    Wer war sie? Sie kam ihm entfernt vertraut vor: vielleicht eine ehemalige Kundin seines Vaters oder eine Bekannte seiner Mutter aus den Tagen, als sie noch Freundinnen hatte und ausging. Er verbeugte sich steif. »Ich habe eine wichtige Erledigung zu machen. Außerdem bin ich sicher, dass meiner Mutter nichts geschehen ist. Die Bomben sind eindeutig im Norden und Osten der Stadt gefallen, der Süden ist verschont geblieben.«
    »Liebloser Emporkömmling«, murmelte die Frau. »Ich sag’s ja immer, die Gesellschaft geht vor die Hunde, wenn die Kinder nicht mal mehr –«
    »Halten Sie den Mund, Sie alte Vettel! Das geht Sie überhaupt nichts an.« Elias drängte sich zur Tür. Er brauchte nicht daran erinnert zu werden, seine Pflicht zu tun – zumal es genau das war, was er gerade vorhatte.
    Die Seitenstraßen in diesem Teil der Stadt wirkten friedlich, als wäre eben ein Gewitter vorbeigezogen und die Vögel würden gleich wieder anfangen zu singen. Elias war noch nie hier gewesen, doch als er auf den Steinstufen stand und zu den Fenstern hinaufsah, war ihm, als käme er nach Hause. Er verschnaufte einen Moment, bevor er die Treppen zum Flur im fünften Stock erklomm. Erst als er an die Tür klopfte, bemerkte er, dass seine Knöchel stark abgeschürft und staubig waren.
    Schostakowitsch selbst öffnete die Tür. Das dunkle Haar stand ihm zu Berge, sein Gesicht war blass, und querüber seine Stirn zog sich ein langer Tintenfleck. Aus dem Raum hinter ihm kam ein solcher Radau, dass man sein eigenes Wort nicht verstand.
    »Guten Morgen.« Elias sprach laut, obwohl der Lärm ihn plötzlich an seinem Vorhaben zweifeln ließ. Was in aller Welt machte er hier? Die alte Frau hatte recht. Er hätte zu Hause sein sollen, hatte hier nichts zu suchen, schon gar nicht an diesem Tag.
    Der Lärm ging unvermindert weiter: Geschrei, Gequengel und Gejammer. »Ruhe jetzt!«, brüllte Schostakowitsch.
    Augenblicklich trat

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