Dirigent
vernichtenden Blick zu. Die Flamme ihrer Liebe war offensichtlich niedergebrannt. »Ich habe gehört, die Frauen sollen großartig gewesen sein. Die Männer waren diejenigen, die in den Hauseingängen kauerten, während die Frauen sich vorwagten, um die Verwundeten von der Straße zu ziehen. Manchen war das Gesicht weggeschossen worden. Nur noch Löcher, wo vorher Augen, Nase und Mund gewesen waren.«
Elias hatte genug gehört. Er klopfte mit dem Taktstock auf das Pult. »Bitte«, sagte er, bemüht, sein Entsetzen und seinen Schock zu verbergen, »denken Sie daran, warum wir hier sind.«
»Um Lockvögel zu spielen?« Die Nähe des Todes hatte Alexander noch dreister gemacht. »Wir sitzen hier rum und bereiten uns darauf vor, für unsere unsichtbaren englischen Zuhörer zu quaken wie ein Schwarm Enten, bis uns Granatsplitter die Flügel zerfetzen. Ist es das wert?«
Bevor Elias antworten konnte, ergriff der alte Petrow für ihn Partei. »Halten Sie den Mund. Wir werden weiter proben,bis uns die Granaten auf den Kopf fallen. Das ist unsere Aufgabe.«
»Danke«, sagte Elias matt. Nur allzu deutlich sah er die sich windenden Körper und die vernagelten, mit Blut bespritzten Geschäfte vor sich.
»Und wenn es auf der Welt irgendeine Gerechtigkeit gibt«, fügte Petrow hinzu und durchbohrte Alexander mit seinem Blick, »dann bekommt der lauteste Vogel die erste Granate ab.«
»Vielleicht sollten wir uns einen anderen Probenraum suchen«, schlug Cholodow vor. »Wenn wir an den nördlichen Stadtrand umziehen, sind wir weiter von diesen mordenden Hunden weg und außerhalb der Reichweite ihrer Raketen.«
»Im Norden ist die Lage am gefährlichsten, wenn sie uns so bombardieren, wie sie es mit Moskau gemacht haben«, wandte Fomenko ein. »Sie werden nicht riskieren, ihre eigenen Leute über den Haufen zu schießen.«
Und so fing der Zank und Streit wieder von vorn an, während Nikolai schweigend an seinem gewohnten Platz in der letzten Reihe der Geigen saß. Elias’ Vorschlag, die Position des Konzertmeisters einzunehmen, hatte er entschieden abgelehnt. »Das wäre lebensgefährlich. Lieber bekomme ich es mit der deutschen Artillerie zu tun als mit dem kollektiven Zorn des Orchesters.« Nun registrierte Elias voller Unbehagen Nikolais nüchternen Blick, während das Orchester immer ungebärdiger wurde und über die Taktik der Luftwaffe diskutierte wie sonst über Interpretationen zweitklassiger russischer Komponisten. Er musste sein ganzes neu gefundenes Selbstvertrauen aufbieten, um die Stimme zu erheben und sie aufzufordern, still zu sein, weil es ihre Pflicht sei, sowohl trotz als auch wegen dieses verfluchten Krieges Musik zu machen.
Erst am nächsten Morgen in der Straßenbahn merkte er, wie erschöpft er mittlerweile war. Wie in Trance saß er daund starrte auf die kaum wiedererkennbare Stadt. Einst vertraute, jetzt von Schützengräben zerschlitzte Parks, Haufen rostiger Bettgestelle, mitten auf den Kreuzungen gestapelte Stahlträger. Es erinnerte ihn an die Werkstatt seines Vaters zu dessen regsten Zeiten: heilloses Chaos, kein Ende der Arbeit in Sicht. Er warf einen prüfenden Blick in seine Aktentasche, die säuberlich mit Bindfaden verschnürten Partituren, das Spalier der Stifte in ihren Leinenhaltern. Die Ordnung beruhigte ihn, und er schloss die Augen.
Plötzlich wurde die Luft von Sirenen zerrissen. Ihr Heulen klang vollkommen anders als bei den Fliegeralarmübungen – was daran liegen mochte, dass es mit einem ungewohnten Gejaule einherging. Die Straßenbahn kam ruckartig zum Stehen, sodass die Passagiere auf ihren Sitzen nach vorn geschleudert wurden. Auf der Straße wurden über Lautsprecher Befehle erteilt.
»Was ist denn los?« Die alte Frau neben Elias klang verwirrt, ihr Schal war ihr über die Stirn gerutscht, sodass sie aussah wie ein schwerlidriges Reptil. »Was sagen sie da?«
»Das ist ein Luftangriff. Ein richtiger.« Elias schlug das Herz bis zum Hals, er konnte kaum sprechen. »Wir müssen hier weg!«
Es gab ein großes Gewühl, als die Leute zu den Türen und auf die Straße drängten. »Laufen Sie zum Alexandrinski-Theater! Schnell!« Die Wangen des Fahrers waren dunkelrot.
Die Theaterstraße schien unendlich lang, ihre braunen Fassaden mit den Bogenfenstern verschwanden im Nebel. Der Fahrer war schon losgerannt, ein paar Passagiere stolperten hinter ihm her. Elias warf einen Blick zum Horizont und sah schwarze fledermausähnliche Gebilde auf die Stadt zurasen. Er keuchte, hielt
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