Diva (DE)
Oberhand gewinnt. Hellman versetzt Oswald einen heftigen Kopfstoß, rammt ihm ihre Stirn an den Schädel, dass seine Augen kurz glasig werden, und schreit: »Überleg doch mal, du dämlicher Kommunist!« Sie kreischt: »Willst du wirklich, dass Lyndon B. Johnson Präsident wird?«
Ein Schuss fällt, Hellman taumelt zurück und hält sich die Schulter, aus der in pulsierenden Stößen Blut zwischen ihren Fingern hervorschießt. In der Ferne bewegt sich der rosa Halston -Pillbox-Hut von Jacqueline Kennedy außer Schussweite, und wir hören einen zweiten Schuss. Einen dritten Schuss. Einen vierten …
Unter weiteren Schussgeräuschen blenden wir zu Katherine Kentons Küche über, wo ich am Tisch sitze und ein von Lilly verfasstes Drehbuch mit dem Titel Erlöser des zwanzigsten Jahrhunderts lese. Die Sonne scheint zu den Fenstern herein, der steile Einfallswinkel deutet auf die Mittagszeit hin. Im Hintergrund sehen wir die Dienstbotentreppe, die aus dem ersten Stock in die Küche führt. Als akustische Überleitung sind immer noch Schüsse zu hören, die sich jetzt als Schritte entpuppen, die die Treppe herunterkommen: Die Tonkulisse der Traumsequenz geht hier in die Realität über.
Während ich lese, erscheinen oben auf der Dienstbotentreppe zwei Füße in rosa Pantoletten mit klobigen Absätzen, poltern geräuschvoll die Stufen hinunter, und wir erblicken den Saum eines hauchdünnen, mit wehenden rosa Reiherfedern besetzten rosa Morgenmantels. Der Mantel ist vorne offen, und es zeigt sich ein nacktes Bein, rosig und glänzend vom Knöchel bis zum Oberschenkel; dann zeigt sich auch das zweite Bein, indes die Gestalt weiter nach unten kommt. Der Morgenmantel flattert um zierliche Knöchel. Die Schritte, laut wie Gewehrschüsse, gehen weiter, bis meine Miss Kathie vollständig zu sehen ist und in der Tür stehen bleibt; sie lehnt sich schlapp an den Rahmen, die veilchenblauen Augen halb geschlossen, die Lippen geschwollen, der Lippenstift von einer Wange zur anderen um ihren Mund verschmiert, von der Nase zum Kinn verschmiert, das aschfahle Gesicht in einer Wolke aus rosa Federn. Miss Kathie steht dort und wartet, dass ich von dem Hellman-Drehbuch aufblicke, und erst dann schwebt ihr Blick in meine Richtung, und sie sagt: »Ich bin so glücklich, dass ich nicht mehr allein bin.«
Auf dem Küchentisch stehen diverse Trophäen und Preise, angelaufenes und verstaubtes Gold und Silber in verschiedenen Stadien der Vernachlässigung. Dazwischen eine offene Dose Silberpolitur und ein schmutziger Putzlappen.
Miss Kathie hält mit beiden Händen etwas hinter ihrem Rücken versteckt und sagt: »Ich habe dir ein Geschenk gekauft …« Sie tritt zur Seite und präsentiert eine Schachtel, in Silberpapier gewickelt und mit einem breiten rotsamtenen Band verschnürt, das zu einer Schleife geknotet ist, groß wie ein Kohlkopf. Die Schleife dunkelrot wie eine riesige Rose.
Miss Kathies Blick schwebt zu den Trophäen, sie sagt: »Schmeiß diesen Schrott weg – bitte.« Sie sagt: »Pack das alles zusammen und lagere es irgendwo ein. Ich brauche die Liebe all dieser Fremden nicht mehr. Ich habe die Liebe eines perfekten Mannes gefunden.«
Sie hält das Päckchen vor sich hin, streckt mir die in roten Samt und Silberfolie gewickelte Schachtel entgegen und tritt ins Zimmer.
Im Drehbuch hält Lilly Hellman Oswald im Doppelnelson umklammert, seine Arme hochgebogen und hinterm Kopf verdreht. Mit einem gekonnten Beinfeger tritt sie ihm die Füße weg, und er kracht auf den Betonboden, wo die beiden sich kratzend und beißend in Reichweite des geladenen Gewehrs im Staub wälzen.
Miss Kathie stellt das Päckchen auf den Küchentisch, neben mich, und sagt: »Alles Gute zum Geburtstag.« Sie schiebt die Schachtel, bis sie an meinen Arm stößt, und sagt: »Mach auf.«
In Hellmans Drehbuch brüllt Lilly vor übermenschlicher Anstrengung. Durch das stille Lagerhaus schallt einzig das Ächzen und Grunzen, das grimmige Kampfgestöhn in ironischem Kontrast zu dem Applaus und Tamtam draußen, zum Geschmetter der Blaskapellen und dem unscharfen Getrappel marschierender Tambourmajoretten, die ihre verchromten Stäbe hoch in die Luft schleudern, wo sie in der grellen Sonne von Texas blitzen.
Ohne von dem Drehbuch aufzublicken, sage ich, heute ist nicht mein Geburtstag.
Meine Miss Kathie betrachtet die Trophäen und sagt: »Dieses Getue von wegen ›Lebenswerk …‹« Ihre Hand taucht in eine unsichtbare Tasche ihres Morgenrocks und
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