Diva (DE)
übergroße Mann schwärmt von dieser winzigen Frau und erweckt damit den Eindruck von Bescheidenheit. So schöne, falsche Komplimente – das männliche Gegenstück zum mit viel Geschrei vorgetäuschten Orgasmus einer Frau. Erstere, um eine Frau ins Bett zu kriegen. Letzterer, um den Geschlechtsverkehr umso schneller hinter sich zu bringen und den Mann aus dem Bett zu kriegen. Während der Senator diese Worte spricht, nach denen jede Frau sich sehnt, entwickelt er sich. Seine breiten Schultern und der Nacken eines Höhlenmenschen werden zu denen eines liebevollen Vaters, eines idealen Ehemannes. Eines bescheidenen Dieners. Die wilde Neandertalergestalt verändert sich. Seine Zähne wandeln sich vom Fletschen zum Lächeln. Seine behaarten Hände werden von Waffen zu Werkzeugen.
»Heute Abend bitten wir sie in aller Demut, unsere Bewunderung entgegenzunehmen«, sagt der Senator und wiegt die Trophäe in einem gewinkelten Arm. »Sie ist der Preis, den jeder Mann zu erringen trachtet. Sie ist das Kronjuwel unserer amerikanischen Theatertradition. Und damit wir ihr unsere Wertschätzung zeigen können, meine Damen und Herren … hier ist sie: Katherine Kenton .«
Beifall erhalten, nicht für irgendeine Vorstellung, sondern dafür, dass man einfach nicht stirbt. Die heutige Veranstaltung – erste Bekanntschaft mit dem Senator und Hochzeitsnacht zugleich.
Vermutlich ist es ein Trost, vielleicht ein Gefühl von Eigeninitiative, wenn man sich selbst größeren Schaden zufügt, als die Welt es jemals wagen würde.
Heute Abend ein weiterer Ausflug in die große Wüste des reifen Alters.
Auf dieses Stichwort hin schreitet meine Miss Kathie ins Rampenlicht, und sofort brandet donnernder Applaus auf. Nach Applaus sehnt sie sich mehr als nach jedem Festessen, dass der Abend noch mit sich bringen könnte. Die Szene zerspringt unter den Blitzen Hunderter Kameras. Mit weit ausgebreiteten Armen gleitet sie lächelnd in die Umarmung des Senators und nimmt das geschmacklose Stück vergoldeten Schrotts entgegen.
Wir blenden aus der Rückblende langsam zu einer extremen Nahaufnahme dieser Trophäe über, auf der wir lesen: Überreicht vom Verein der Theaterbegeisterten im Western Schuyler County . Ein gutes Jahrzehnt danach steht das Ding im Regal, das Gold dunkel angelaufen, das ganze Trumm in Spinnweben eingewickelt. Ein weißes Tuch kommt ins Bild und legt sich darüber; eine Hand hebt es aus dem Regal. Die Kamera zieht auf, und man sieht mich im Salon des Stadthauses bei der Arbeit. Staubwischen. Polieren. Spinnweben hängen in meinem Gesicht, ein Heiligenschein aus Staub umgibt meinen Kopf. Hinter den Fenstern ist es dunkel. Mein Blick ist auf nichts gerichtet, das man sehen kann.
Geräusch im Off: Ein Schlüssel öffnet das Schloss der Haustür. Ein Luftzug bewegt meine Haare, wir hören die schwere Tür auf- und zugehen. Schritte tappen aus dem Vorsaal die Treppe hinauf. Wir hören eine zweite Tür auf-und zugehen.
Ich stelle die Trophäe weg und folge, das Staubtuch noch in der Hand, den Schritten die Treppe hinauf in den ersten Stock und gelange vor die Tür von Miss Kathies Boudoir. Sie ist zu. Während in einem anderen Teil des Hauses eine Uhr zweimal schlägt, klopfe ich an und frage, ob ich Miss Kathie mit dem Reißverschluss helfen soll. Ob ich ihre Pillen zurechtlegen soll. Ob ich ihr ein Bad einlassen und die Kerzen auf dem Kaminsims anmachen soll. Auf dem Altar.
Aus dem Boudoir keine Antwort. Der Türknauf lässt sich in keine Richtung drehen. Verriegelt. Die Tür, die Miss Kathie niemals abschließt. Ich lege eine staubige Wange an das Holz, klopfe noch einmal und horche. Als Antwort ein matter Seufzer. Ein zweiter Seufzer, lauter, dann noch lauter, das Quietschen von Bettfedern. Als Antwort bekomme ich nur das Quietschen von Bettfedern, immer wieder, ein Quietschen so schrill und regelmäßig wie Gelächter.
1. AKT, ZEHNTE SZENE
Die Szene beginnt mit einer Rauferei zwischen Lillian Hellman und Lee Harvey Oswald, die in der Nähe eines offenen Fensters im sechsten Stock des Texas School Book Depository mit bloßen Händen ringen und aufeinander einschlagen, umgeben von gut sichtbaren Stapeln von Hellmans Büchern Die kleinen Füchse und Kinderstunde und Herbstgarten . Draußen vor dem Fenster gleitet eine Autokolonne über die Dealey Plaza , man sieht Hände winken und Fahnen flattern. Hellman und Oswald kämpfen um ein Gewehr, reißen die Waffe zwischen sich hin und her, ohne dass einer die
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