Diva (DE)

verstreut herumliegenden toten Matrosen stehen auf und drehen die Köpfe hin und her, um ihre steifen Hälse zu dehnen. Leutnant zur See Joe Taussig bringt die USS Nevada in den Hafen zurück, während Lilly sich auf die Vorbühne schwingt. Ihre Spucke blitzt im Rampenlicht, als sie schreit: »Fouetté en tournant , wenn du die Granate schmeißt, du blöde Kuh!« Hellman macht es ihr vor, reckt sich auf eine zitternde Fußspitze und kickt das erhobene Bein nach oben, so dass sie ins Rotieren gerät. Kickend und kreiselnd kreischt sie: »Und dreh dich einmal ganz im Kreis herum , nicht bloß halb …«
    Im Gegenschuss sehen wir Terrence Terry und mich im Hintergrund des Theaters sitzen, umgeben von allerlei Kleidersäcken, Hutschachteln und ungewollten Kindern. Ansonsten sind alle Sitze leer. Terry meint, Miss Kathie vermassele den Granatenwurf absichtlich immer wieder. Ihr Wurf davor hatte Barbara Bel Geddes getroffen. Die Granate davor war vom dicken Schädel Hume Cronyn s abgeprallt. Falls Webster vorhabe, sie auf dem Höhepunkt eines neuen Bühnenerfolgs zu töten, erklärt Terry, sei es ziemlich sinnlos, wenn Miss Kathie dem bösen Kaiser Showa eine Niederlage beibringe. Begeisterte Premierenberichte würden die Gefahr für sie nur erhöhen.
    Auf der Bühne vollführt Lilly Hellman einen perfekten pas de bourée und trifft gleichzeitig Buddy Ebsen mit einem Pistolenschuss genau zwischen die Augen.
    Hellman reicht Miss Kathie die Pistole und sagt: »Jetzt versuch du das mal …«
    Die Pistole hat eine Fehlzündung und tötet Jack Elam . Ein weiterer Schuss prallt als Querschläger von der USS New Jersey ab und verwundet Cyd Charisse .
    Ich schreibe in ein Notizbuch auf meinem Schoß. Kopf tief über die Arbeit gebeugt. Unter dem Notizbuch habe ich die neueste Fassung von Sklave der Liebe versteckt, den vierten Entwurf des Schlusskapitels. Ein Plan jenseits des Busunfalls, der Grizzlybärengrube, des Stromtods im Schaumbad.
    Auf der Bühne vollführt Lilly Hellman eine Reihe von jetés und bestreicht dabei die Flying Escalantes mit einem Flammenwerfer.
    Von Terry durch den Mittelgang getrennt, sitze ich mit dem aufgeschlagenen Notizbuch auf dem Schoß im Dämmerlicht und schreibe. Die Spitze meiner Füllfeder kritzelt Schleifen und Pünktchen zu Zeilen und Sätzen aufs Papier, ich schreibe, eine Erinnerung ist nichts als eine persönliche Entscheidung. Eine sehr bewusste Entscheidung. Wenn wir irgendwelche Leute  – Vater oder Mutter, Ehemann oder Freund  – als besser in Erinnerung behalten, als sie vielleicht wirklich waren, dann tun wir das, um ein Ideal zu erschaffen, etwas, dem wir nacheifern können. Während, wenn wir jemanden als Säufer, als Lügner oder Rüpel in Erinnerung haben, dies nur eine Ausrede für unser eigenes schlechtes Benehmen ist.
    Des Weiteren schreibe ich, dass man dasselbe von Leuten sagen kann, die solche Bücher lesen. Die besseren suchen nach Vorbildern, solchen wie Katherine Kenton , die zu erschaffen ich mein Leben gewidmet habe. Andere Leser suchen sich die billige Hure heraus, die Webster Carlton Westward III in seinem Buch geschildert hat, um ihr eigenes schäbiges zerrüttetes Leben zu legitimieren.
    Jeder Mensch sucht entweder nach Gründen dafür, gut zu sein, oder nach Vorwänden dafür, es nicht sein zu müssen.
    Vielleicht bin ich elitär, aber ich bin noch gar nichts gegen Mary Pickford .
    Auf der Bühne klatscht Lilly zweimal in die Hände und sagt: »Okay, noch mal von da, wo Bombensplitter Captain Mervyn Bennion zerfetzen.«
    Alle Anwesenden, von Ricardo Cortez bis Hope Lange , beten inbrünstig, länger zu leben als Miss Hellman, auf dass ihnen erspart bleibe, nach dem Tod in die abscheuliche Selbstvergötterung dieser Frau aufgesogen zu werden. Ihr zwanghaftes Eindruckschinden, dieses Tourette-Syndrom , vertont von Otto Harbach . In Gegenwart von Miss Hellman gibt es keine Atheisten.
    Lilly Hellman schreit: »Katherine!«
    Miss Kathie schreit: »Hazie!«
    Zisch, i-aah, kläff  … Jesus Christus .
    Wir alle haben irgendeinen Eigennamen, den wir verantwortlich machen können.
    Die Wahrheit über Miss Kathies schlechte Vorstellung ist, dass sie dauernd nach verirrten Mörsergranaten oder Gewehrkugeln Ausschau hält, die ihrem Leben ein Ende machen sollen. Sie kann sich nicht konzentrieren, weil sie fürchtet, sie habe irgendeine neue Fassung von Sklave der Liebe verpasst und könne jederzeit getötet werden. Von einem explodierenden Schlachtschiff. Von einem