Diverses - Geschichten
doch richtig“, sagte Rolf und blickte auf den murmelnden Bach. „Glaub nicht, dass ich nicht wüsste, wie diese Stadt über mich denkt.“
Susi wusste erst nichts zu erwidern. Doch dann fühlte sie sich doch bemüßigt, etwas zur Verteidigung ihres Wohnortes beizutragen.
„Vielleicht hast du ja angefangen“, bemerkte sie ein wenig zu direkt, doch mit voller Absicht.
Als keine Antwort kam, wand sie den Kopf und traf auf Rolfs Blick, der sie amüsiert ansah. „Das habe ich sogar ganz sicher“, sagte er und musterte sie, als erwarte er jederzeit eine deftige Retourkutsche von ihr.
Doch diese blieb aus, als Susi den Blick senkte.
„Na, dann darfst du dich auch nicht wundern“, fügte sie schließlich zu dem Gespräch hinzu und zögerte.
Rolf rutschte auf der Bank ein wenig hin und her. „Wer sagt denn, dass ich mich wundere“, murmelte er dann.
Susi sah ihn von der Seite an. „Ich denke, ich verstehe“, äußerte sie ruhig.
Rolf wandte sein Gesicht dem Ihren zu und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie satt kastanienbraun seine Augen in dem blassen Gesicht wirkten. Umrahmt von schwarzen Wimpern, die für ein Jungengesicht fast ein wenig zu lang wirkten und ihm doch den Anstrich einer Sensibilität gaben, die er hinter seinem angeberischen Äußeren nur allzu gut verstecken konnte.
Sie nickte. „Oh ja, jetzt verstehe ich“, murmelte sie und ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. Ein Lächeln, das diesmal echt war, klar und ohne Vorbehalte. Ihr würde er nichts mehr vormachen. Ihr nicht. Vielleicht dem Rest der Stadt, vielleicht Hendrik, vielleicht der Schule, doch sie hatte einen Blick hinter die Fassade geworfen. Ihr Lächeln vertiefte sich. Und das Schönste daran war, dass Rolf selbst es vermutlich nicht einmal merkte.
Magie einer Nacht
Es war Saschas neuntes Weihnachtsfest. Unnötig zu sagen, dass er sich nur an die jüngst vergangenen erinnerte.
Ein kleiner, schmaler Junge mit großen Augen, die größer wurden, je näher das Fest rückte, fand sich jeden Dezember in einer veränderten Welt wieder.
Für Außenstehende sah es gerade so aus, als sogen sich seine Pupillen mit den immer heller werdenden Lichtern voller und voller, bis sie den Rand der Iris erreichten, um dort die winzigen Funken widerzuspiegeln.
Sascha liebte das Lichtermeer, das sich ihm offenbarte, wenn er in das Dunkel eines Tannenbaums sah, ob dieser nun künstlich oder echt, Fichte oder Nordmanntanne zu sein vorgab.
Ja, er liebte Weihnachten. Und da er für sein Alter sehr klein war und somit jünger wirkte, als er tatsächlich war, gerieten gelegentlich Erwachsene, ob Verwandtschaft oder Freunde, in Verzückung, wenn sie ihn sahen, wenn sie beobachten durften, wie sich die Freude auf seinem blassen Gesicht ausbreitete.
Der Schimmer brennender Kerzendochte reichte bereits aus, um einen warmen Schein auf seine Züge zu zaubern, der jedem, der sich in seiner Nähe befand, das Herz erwärmte.
Der kleine Sascha liebte Weihnachtsgeschichten. Er konnte Stunden damit verbringen, alte Bücher durchzublättern, die jedes Jahr zur Weihnachtszeit wieder hervorgesucht wurden. Dabei las er nicht. Lesen zählte nicht zu seinen Stärken. Aber er liebte es, die Bilder zu betrachten und sich selbst seine Geschichten zu diesen auszuspinnen.
Wenn seine Eltern mehr Zeit für ihn aufbrächten, dann fiele es ihnen vielleicht auf, dass er, ohne sich zu rühren, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, auf ein und dasselbe Bild starrte.
Dann erwachten in seiner Phantasie die dargestellten Figuren zum Leben. Dann flogen Engel durch den Raum und ließen Silberstaub regnen. Dann linste der Nikolaus durch das mit Schnee beschlagene Fenster, grinste freundlich und winkte ihm zu. In einer anderen Jahreszeit wären es Ritter oder Piraten gewesen, deren Abenteuer Sascha sich vorstellte. Vielleicht auch Tiere, die in Höhlen lebten, Ameisen, die ihre Schlachten gegen ein Volk stärkerer Termiten ausfochten.
Doch nur zur Weihnachtszeit fühlte Sascha, wie sich das Tor zu einer anderen Welt öffnete. Einer Welt, die über die Grenzen der Realität hinausging. In der Unvorstellbares geschah, in der Wunder an der Tagesordnung waren.
Eine Welt durchaus, in der das Böse nicht existierte. In der jeder Griesgram sein sanftes Herz entdeckte. In der jede gute Seele reich belohnt wurde.
So sehr Sascha sich für den Rest des Jahres in spannende Geschichten flüchtete, so sehr sehnte er sich in den dunkelsten Wochen nach einer Besinnlichkeit, die er
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