Diverses - Geschichten
Abschluss bereits in gefährliche Nähe rückte. Gefährlich, weil Susi nicht darüber nachdenken wollte, dass sie ihn verlieren konnte, dass die Weichen sich verstellen und ihr vertrautes Leben eine neue Richtung nehmen sollte.
Natürlich wusste sie, dass diesen Veränderungen nicht zu entkommen war, dass sie sich früher oder später damit auseinandersetzen musste. Die Welt blieb nun mal nicht wie sie war. Und ebenso, wie Rolf unvermittelt und unerwartet in dem Städtchen aufgetaucht war, so würde Hendrik eines Tages fortziehen, und sei es nur, um auf die Universität zu gehen.
Hendrik bedeutete Beständigkeit, Sicherheit und Vertrauen. Susi verließ sich darauf, dass ihm die Verbindung zu ihr ebenso wichtig war, wie ihr die Verbindung zu Hendrik, dass sie zusammenbleiben würden.
Schließlich waren sie beide lange genug um ihre Beziehung herumgetanzt, hatten sich vor- und zurückbewegt, umkreist und abgewartet, bis keiner von ihnen mehr eine Ausrede entdecken konnte.
Hendrik war groß und stark und zielbewusst. Er war vernünftig und plante seine Zukunft im Detail. Susi wünschte sich, auch sicher sein zu können, wie er. Sie arbeitete daran. Und doch gab es hin und wieder diese Momente, in denen sie sich nichts sehnlicher wünschte, als aus dem Rahmen auszubrechen, in den das Schicksal sie gesteckt hatte. In dem sie sich befand aufgrund der Wohlhabenheit ihrer Familie, der Erwartungen, die allerorts an sie gestellt wurden und die sie gewohnt war, pflichtbewusst und buchstabengetreu zu erfüllen.
Hendrik war der Mann, an dem sie plante sich festzuhalten, der ihr die Richtung weisen sollte, wenn sie selbst ins Schwanken geriet. Wenn unklare, ungenaue Vorstellungen sie einholten, Gedanken an Ausbruch, an Alternativen, an eine Welt außerhalb der ihr vorgegebenen.
Vielleicht war es das, was sie an Rolf so aufregte. Er schien keinen Plan, keine Erwartungen, nicht einmal ein Ziel zu besitzen. Rolf ließ sich durch den Tag, durch sein Leben treiben, ohne die Notwendigkeit zu verspüren, sein Bestes zu geben, die Chancen, die sich ihm boten, zu optimieren.
All das an sich wäre nicht einmal so schlimm gewesen und auf gar keinen Fall ein Grund dafür, einen weiteren Gedanken an den Jungen zu verschwenden.
Aber der Ärger, den er machte, die ständige Aufmerksamkeit, die er hervorrief, schrien geradezu danach, sich intensiver mit ihm zu befassen, und sei es auch nur, um sich der eigenen Abneigung ihm gegenüber bewusst zu werden.
Da war diese Schlägerei gewesen, in die sich sogar der sonst so vernünftige Hendrik verwickeln ließ. Und wenn sie ihm Glauben schenkte, dann handelte es sich dabei nur um eine von Vielen.
Rolf zog das Unglück an, zumindest hatte Hendrik es so ausgedrückt, als er sich den Eisbeutel gegen die Stirn presste. Und er hatte mehrfach versichert, dass er ihn nicht leiden konnte, ja, dass er ihn direkt hasste, um keinen Preis der Welt etwas mit ihm zu tun haben wollte.
Susi nahm ihre Thermosflasche aus der Tasche und schenkte sich einen halben Becher dampfenden Tees ein. Es war eindeutig noch zu kalt, um draußen zu sitzen, aber Susi konnte nicht wiederstehen.
Jedes Jahr zog es sie an den ersten Tagen, in denen der Frühling seine Ankunft meldete, ein Stück aus dem Ort hinaus, an den kleinen Bach mit der Brücke und der hölzernen Bank, von der aus sich der schönste Blick auf eine kleine Idylle entfaltete.
Diesmal hatte sie sich entschieden nach dem Unterricht nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern war sofort in die Richtung aufgebrochen, in die es sie lockte. Der Himmel war blau und die Farben frischer und heller, als sie ihr in den letzten Monaten erschienen waren. Noch stieß keine Blüte, kein frisches Grün aus der Erde, doch Susi spürte, dass es sich nur um eine Frage von Tagen handelte, bis die Welt ein neues Kleid trüge.
Sie lehnte sich zurück, nahm einen Schluck aus der Plastiktasse und genoss die Wärme, die ihre Kehle hinunter strömte. Wenn sie wollte, konnte sie den ganzen Nachmittag hier verbringen, in Seelenruhe und allein.
Ihre Mutter war beschäftigt und ansonsten vermisste sie niemand.
Es schien, als habe jeder Mensch, einschließlich Hendrik, zu viel zu tun, als dass es auffiele, wenn sie sich für einen Tag ausklinke.
Eigentlich war dies nicht Susis Art, doch an diesem Tag konnte sie nicht anders.
Wer hätte auch erwartet, dass ihr an diesem einsam gelegenen Platz, zu einer unmöglichen Uhrzeit, ausgerechnet der Junge entgegenkäme, über den sie sich so
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