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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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nicht zu greifen gelernt hatte.
    Und doch spürte sein Kinderherz, dass es ihm nicht alleine so ging. Er sah es in dem Blick der Erwachsenen, der unvermittelt weich wurde, wenn er seine Arme nach einem Teller mit Lebkuchen ausstreckte. Auch, wenn sie die Lichter bewunderten, so manch eine zart geformte Engelsskulptur oder eine geschnitzte Pyramide, die sich anmutig mit der aufsteigenden, warmen Luft der Kerzenflammen drehte.
    Doch mehr als ein Gespür blieb es nicht, denn Weihnachten bestand für seine Eltern lediglich aus uferlosem Konsumrausch. Was dazu führte, dass sie noch weitaus weniger für ihn da waren, als es ansonsten ihre Gewohnheit war. Zu beschäftigt fühlten sie sich mit der Besorgung unnötiger, aber dafür umso eindrucksvollerer Geschenke. Mit dem Besuch verschiedenster Weihnachtsfeiern, mit den guten Wünschen und Auftritten, die ihre wichtigen Jobs in ihren noch wichtigeren Büros erforderten.
    Wenn Sascha darüber nachdächte, dann gelangte er sicher zu dem Schluss, dass seine Mutter mehr Zeit dazu benötigte, sich für eines der Feste herauszuputzen, als für das Schmücken eines Christbaumes.
    Dennoch war ihm das einerlei. Er hatte sich daran gewöhnt, nebenher zu laufen, daran gewöhnt, für seine Eltern keinerlei Priorität zu besitzen.
    Und er wurde ja auch großzügig dafür entschädigt. Denn unter den Vertretern seiner Verwandtschaft befand sich ein Mensch, der anders war. Ein Einzelner interessierte sich nicht vorrangig für die leuchtende Welt, die sich mit Geld erwerben ließ.
    Der hegte bescheidenere und doch umso heller scheinende Träume. Träume, die weder Ziel noch Zweck kannten.
    Und so fand Sascha bereits in frühesten Jahren einen Gleichgesinnten, jemanden, auf dessen Schoß er sitzen und die Bilder betrachten konnte, die zipfelbemützte Elfen, widerspenstige Riesen oder machtvolle Hexen zeigten, die eine Ahnung davon vermittelten, was in geheimnisvolleren Zeiten zum Leben erwachte.
    Einmal im Jahr, wenn Onkel Johannes zu Besuch kam, fand Sascha jemanden, der sich ebenso wie er in eine Szene vertiefen konnte, die nicht mehr beinhaltete, als eine Handvoll Engel, die über den Wolken, Weihnachtsgebäck herstellten. Jemanden, der, so wie Sascha selbst, viel mehr in einem Bild, in einer Figur oder in einem Winterwald entdeckte.
    Sie erahnten beide den Weihnachtsmann, der durch die winzige Lücke in der Wolkendecke emporblickte, der sich bereits erwartungsvoll die Lippen leckte, und zugleich viel zu viel Arbeit vor sich sah, als dass er einen Abstecher in den Himmel unternehmen könnte, sei es auch nur, um eine Kostprobe zu nehmen.
    Als Sascha älter wurde, veränderten sich auch die Geschichten, die Johannes ihm vorlas. Es war darin von grimmigen Männern die Rede, von hartherzigen Lumpen, denen erst ein Blick in die Dunkelheit dabei half, den wahren Sinn der Weihnacht zu erkennen.
    Wohlige Schauer rieselten Sascha den Rücken herab, wenn er sich die Geister und Dämonen vorstellte, von denen Onkel Johannes, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, zu sprechen pflegte.
    Dessen ohnehin wirres Haar stand ihm dann noch stärker in alle Richtungen ab, schien sich mit aller Macht dagegen zu wehren, in eine auch nur halbwegs gefällige Form gepresst zu werden.
    Die fast immer rote Nase des Onkels und die kleinen Flecken auf dessen Wangen waren Sascha so vertraut wie der Anblick des eigenen Gesichts im Spiegel.
    Wenn Johannes endlich eintraf, strahlte Sascha so sehr, dass ihm die Blicke der Umstehenden nicht auffielen.
    Ebenso wenig wie es ihm auffiel, dass Johannes die erstbeste Gelegenheit wahrnahm, um sich von der Gesellschaft zurückzuziehen. Auch wenn das dazu führte, dass er mit Sascha in eine Ecke kauerte und im Betrachten eines Bilderbuches versank.
    Und im weiteren Verlauf des Abends, manches Mal hinter vorgehaltener Hand, eine seiner Geschichten erzählte, die noch weitaus fantastischer anmuteten, als alle Sagen von Engeln und Dämonen es konnten.
    Das waren die Momente, in denen Sascha glücklich war. Sie bedeuteten Weihnachten. Wenn die beiden Menschen, die nicht in die Reihen der Familie passten, sich zusammenfanden, um ihre eigene Welt zu erschaffen, dann fand Sascha seinen Platz. In diesem Moment spielte es keine Rolle mehr, dass er zu jung und Johannes anders war. Dass sie nicht inmitten einer Gesellschaft saßen, die sich gesittet über weiße Tischdecken hinweg unterhielt, der kein Tropfen Soße entkam, und unangenehm den Blick auf sich zog. Dass sie nicht dabei waren, wenn

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