Diverses - Geschichten
Boden aufkam. Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, zog die Beine an und umschlang sie mit seinen Armen, als könnte er die Wahrheit abhalten.
Kalle lebte. Er lebte doch, und dennoch gelang es Sascha nicht den namenlosen Schrecken in sich niederzukämpfen, der ihn erfasst hatte.
„Er lebt“, flüsterte er wieder und wieder, als könnten ihm die Worte helfen. „Er lebt.“
Als er seinen Kopf auf die Arme legte, und die Tränen zu fließen begannen, da tauchte Kalles Bild vor ihm auf, so wie er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Gesund und lächelnd, schön und stark, so perfekt wie Sascha es niemals hoffen durfte zu werden.
Seine Tränen flossen weiter, schüttelten seinen Körper in lautlosem Schluchzen. Doch dann verblasste das Bild und Saschas Tränen versiegten. Sein Gesicht brannte, als er es in seinen Händen barg, und Kalle wieder vor ihm Gestalt annahm.
Der lächelte immer noch, doch um seine Augen bildeten sich Falten. Seine Schläfen durchzogen silberne Haare und auf seiner Wange entdeckte Sascha eine auffallend hervortretende Narbe. Ausgeheilt, alt, Zeichen eines längst vergessenen Vorfalles aus seiner Jugend, eines Absturzes im Einsatz. Und Kalle zwinkerte ihm zu, als sähe er Sascha, als wüsste er, dass dieser ihn beobachtete. Dann strich er sich mit der Hand über die Wange und Sascha bemerkte das Fehlen des kleinen Fingers.
„Ist das alles?“, flüsterte er und zuckte beinahe zusammen, als die Gestalt nickte und in Kalles Stimme antwortete: „Das ist alles, kleiner Bruder.“
„Du hättest tot sein können“, wisperte Sascha.
Kalle sah ihn ernst an. „Dieses Risiko gehen wir mit jedem Atemzug ein.“ Er blinzelte. „Wir tragen unsere Narben als Erinnerung an die Lektionen, die wir gelernt haben.“
„Dann gehst du nicht zurück?“, fragte Sascha leise und ließ es zu, dass ein Hauch von Hoffnung sich in seine Stimme verirrte.
Um Kalles Lippen zuckte ein Lächeln, verschwand jedoch ebenso schnell wieder, wie es aufgetaucht war.
„Ich gehe zurück ins Leben“, sagte Kalle. „Genau wie du. Wir beide wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, niemand weiß das. Aber das Geschenk, das uns gegeben ist, trägt die Verantwortung in sich, es zu nutzen, so gut es in unseren Kräften steht.“
„Ein Weihnachtsgeschenk.“ Sascha hob seinen Kopf und öffnete die Augen. Verschwommen, durch den Schleier aus Tränen, erkannte er Kalle, der seine Hand in einem flapsigen Gruß gegen die Stirn hob.
„Frohe Weihnachten“, sagte Kalle leise, bevor seine Gestalt sich auflöste.
„Frohe Weihnachten“, flüsterte Sascha und lächelte mit tränennassem Gesicht.
Susi
Susi konnte ihn nicht leiden. Er war ein Rüpel, unhöflich und setzte ständig dieses eingebildete Lächeln auf, als wollte er damit sagen, dass er etwas Besseres wäre. Besser als sie und besser als ihr Freund. Besser als alle anderen Einwohner des Dorfes.
Susi schnaubte, wenn sie daran dachte.
Nur, weil er aus der Stadt kam und so tat, als besäße er all die Welterfahrenheit, die man sich nur vorstellen konnte. Von wegen. Susi war welterfahren genug. Sie war ausreichend herumgekommen, hatte genug gesehen und gelernt, um zu wissen, dass ein Aufenthalt in der Stadt einen weder klüger noch vernünftiger machen konnte. Und wenn Rolf sich das einbildete, dann war das sein Problem. Das Problem ihrer Freunde allerdings wurde es, wenn er mit seinem Benehmen überall aneckte. Als täte er dies mit Absicht.
Es kam ihr manchmal beinahe vor, als wollte Rolf sich in Schwierigkeiten bringen, als wäre ihm das Kleinstadtdasein allein zu langweilig, zu unausgefüllt und zu konfliktarm, als dass ein Junge wie er es ertragen konnte.
Also machte er Ärger, wo es ging. Die Schule besuchte er nur gelegentlich, ließ überall verlauten, dass man ihm hier nichts beibringen konnte, dass auf der Straße mehr zu lernen wäre, als in dumpfen Klassenräumen.
Nun, Susi konnte dies nicht beurteilen, hatte ihre Mutter sie doch schon vor geraumer Zeit in eine Privatschule am Rande des Ortes geschickt. Eine Schule, in der sie sich fraglos wohlfühlte, die ihr alle Chancen und alle Möglichkeiten bot, sich zu entfalten. Susi war klug genug, diese zu nutzen. Sie engagierte sich in Schülerzeitung und Theaterclub, spielte Geige im Orchester und trug sogar die Schuluniform mit Stolz und Freude.
Ihr Freund Hendrik dagegen besuchte ebenso die öffentliche Schule, wie der zugezogene Rolf. Nur, dass er sich einige Jahre über diesem befand, sein
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