Doberstein & Rubov 01 - Feuerfrauen
sprießen. Die Menschen, an denen der Kastenwagen aus Nürnberg vorbeirauschte, wirkten geschäftig und gut gelaunt. Etliche kleine Läden, die Sina bei ihrem ersten Besuch gar nicht bemerkt hatte, waren fein rausgeputzt.
»He! Hier tut sich ja richtig was«, bemerkte sie.
Gabriele nickte scheinbar gleichgültig. »Frühlingserwachen nennt man das wohl. Das erinnert mich an Tucholsky.«
»An Kurt Tucholsky?«
Gabriele warf Sina für diese unqualifizierte Frage einen strafenden Blick zu. »Wen sonst? Der hat die Aufbruchstimmung auf dieser Insel einmal sehr schön beschrieben. Mal sehen, ob ich es noch zusammen kriege.« Gabriele schien für einige Momente zu vergessen, dass sie ein Steuerrad in den Händen hielt, als sie rezitierte: »Da heißt es, angeschwemmte Strandgutplanken zum Familienbad zusammenzuzimmern, Strandkörbe auszubessern, ja, ein luxuriöser Badeort trägt sich bestem Vernehmen nach mit der Absicht, einen Rettungsring anzuschaffen …«
»Wow!«, lobte Sina. »Jeder Deutschlehrer hätte dir dafür ’ne glatte Eins gegeben. War Tucholsky denn öfter mal auf Usedom?«
»In den frühen 20ern. Da hatte er noch nicht ahnen können, wie die Nazis dieses schöne Fleckchen Erde vergewaltigen würden.« Gabriele verscheuchte diese Gedanken augenblicklich wieder. Sie lächelte zufrieden, als sie fortfuhr: »Im Übrigen war er nicht der Einzige, der die Lieblichkeit und gleichzeitig das Raue und Ursprüngliche dieser Gegend schätzte.«
»Lass hören! Prahl ruhig noch eine Weile mit deinem Wissen.«
Gabriele überhörte diese Spitze. »Ich zitiere Hans Fallada.« Sie räusperte sich. »Von allen Fenstern aus sehen wir Wasser, lebendiges Wasser, das Schönste auf Erden. Es blitzt auf zwischen den Wipfeln uralter Linden, es verliert sich in der Ferne, begleitet von schmächtigen Ellern – dickköpfige Weiden suchen es zu verstecken – da hinter gelben und grünen Schilffeldern nistet noch die Rohrdommel – jenseits unseres Sees sehen wir andere Höfe, auf Hügel gelagert, dort ist bereits Preußen, die Uckermark …«
»Ist ja reizend. Aber was, bitte, sind Ellern?«
»Erlen, Kind. Ein anderer Ausdruck für Erlen. Bäume. Was lernt man heutzutage eigentlich in der Schule, he?«
»Keine Ahnung. Liegt bei mir auch schon ’ne ganze Weile zurück. Aber ich glaube kaum, dass es lebenswichtig ist, x-verschiedene Wörter für irgendeinen blöden Baum zu kennen.«
»Pfff. Keinen Sinn für Poesie.«
Die prächtigen Alleen, die das Achterland durchzogen, waren in kräftiges Grün getaucht. Sinas Stimmungsbarometer begann zu steigen. Sie sah die Insel inzwischen mit ganz anderen Augen: Die feinen, teilweise säuberlich renovierten Villen an den Straßenrändern verrieten noch viel von dem mondänen Charme, den die Seebäder der Insel einmal ausgestrahlt hatten. Sina sah die feine Gesellschaft, die sich hier Ende des letzten Jahrhunderts beim Tanztee amüsiert hatte, bildlich vor sich. Dazu die alten reetgedeckten Fischerhäuser und die noblen Villen aus den Goldenen 20ern – einfach herrlich!
Der Kies knirschte leise, als der VW auf dem Parkplatz neben der ›Schwedenschanze‹ zum Stehen kam. Die Wirtin, wieder im weißen Kittel, stand neben der Eingangstür und polierte ein Messingschild, auf das die Embleme der großen Kreditkartenkonzerne geklebt waren. Als sie die Frauen bemerkte, blickte sie ihnen mit einer Mischung aus Überraschung und Freude entgegen. »Ach …?«, war alles, was sie zunächst hervorbrachte.
Sina grinste sie gewinnend an: »Ja, wir sind’s wieder.«
Gabriele trat näher, stellte ihre Reisetasche ab und spielte nervös an ihrer Perlenkette. »Mm, ja, wir müssen noch ein paar Fotos machen.«
Die Wirtin hatte offenbar nicht die Absicht, diesen fadenscheinigen Grund für das neuerliche Auftauchen der Frauen näher zu hinterfragen, und entgegnete trocken: »Naja, dafür ist es wohl heute zu spät.«
Sie ging ihren beiden Gästen voraus in das Gebäude, griff zielstrebig nach einem Zimmerschlüssel am beinahe leeren Schlüsselbrett. »Die Nummer Fünf. Wie beim letzten Mal. Sie haben Glück.«
Sina freute sich über die Herzlichkeit der Wirtin und fragte frei heraus: »Auch wenn es bereits etwas zu spät ist, um auf Fotosafari zu gehen – ein paar belegte Brötchen und dazu ein, zwei gute Rostocker sind doch wohl drin, oder?«
»Aber ja! Ich sage meinem Sohn Bescheid, er soll zwei Bierchen für Sie zapfen, während Sie Ihre Sachen nach oben bringen.«
Es verging keine
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