Doberstein & Rubov 01 - Feuerfrauen
und 14 Meter lang, beschleunigte auf 90 Kilometer pro Minute, erreichte eine Höhe von 85 Kilometern. – Auf eine Entfernung von 350 Kilometern verfehlte sie ihr Ziel allerhöchstens um vier Kilometer. Für damalige Verhältnisse ein lächerlich geringer Streuradius. Dieses Ding war verdammt gut – bei einer so weiträumigen Metropole wie New York würde es auf jeden Fall einen Volltreffer geben.«
»Und wenn der Direktor nicht kommt?«, drängelte Gabriele und riss Sina aus ihrer Schwärmerei für 50 Jahre alte Ingenieurskünste.
»Er wird kommen.«
»Und wenn er kommt?«
»Dann versuche ich, unauffällig ein paar Informationen aus ihm rauszuholen. Unterstütz mich dabei, ja?«
Gabriele nickte gequält. Sie gingen stumm einige Schritte weiter, bis Gabi vor einem großen Schwarz-Weiß-Bild stehen blieb. Es zeigt einen zerstörten Häuserblock. Sie las den dazugehörigen Text: »London nach dem Einschlag einer V2.«. Sie überlegte: »Wie würde erst New York aussehen?«
»Wenn es einen der Wolkenkratzer von Manhattan trifft, womöglich das World Trade Center«, Sina mochte den Satz nicht vollenden. Der Gedanke an eine solche schier unvorstellbare Katastrophe jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.
Gabriele schritt zum nächsten Bild. Abermals waren Trümmer eines Gebäudes zu sehen. Dazwischen lagen Sessel. Und Plakate. Filmplakate. Gabriele las: »16. Dezember 1944. Im holländischen Antwerpen schlägt eine V2 in ein voll besetztes Kino. 561 Menschen verlieren ihr Leben.« Gabriele spürte, wie sich ihre Kehle zusammenschnürte. Ihr Blick fiel auf eine weitere Tafel. Eine Statistik. Einsatznachweise für die V2 und die andere sogenannte Vergeltungswaffe, die V1. Gabriele konnte kaum fassen, was sie aus der Tabelle ablas: »Innerhalb von nur 80 Tagen schlugen 2.300 V1-Bomben in London ein. Mehr als 6.000 Menschen starben, und 32.000 Häuser wurden zerstört.« Gabi war erschüttert. »Mein Gott, Sina, das habe ich alles überhaupt nicht gewusst.«
»V1 sagst du? Die V1 war eine Art fliegendes Torpedo. Sozusagen nur die kleinere Schwester der V2. Wenn die V1 einen solch immensen Schaden angerichtet hat, kannst du dir vorstellen, was erst die V2 für ein Zerstörungswerk anrichten kann.« Sina, von dieser Erkenntnis selbst ergriffen, lief eilig zur nächsten Tafel. Es ging um Technik. Nackte Technik. Keine Schicksale, keine weiteren grauenvollen Todesbilanzen. Dankbar für diese Ablenkung, vertiefte sich Sina in das kleingedruckte Fachchinesisch. Wer weiß, vielleicht war ein Hinweis versteckt, redete sie sich ein. Das Zitat eines leitenden Ingenieurs war es, das sie aufblicken ließ. »Gabi! Gabi, ich glaub, ich hab da was. Hör mal, was einer der Forscher gesagt hat: ›… und früh war klar, dass sich erhebliche Steuerungsprobleme stellen …‹ – Ich denke, dass wir hier ansetzen könnten.«
Gabriele trat näher, kräuselte jedoch skeptisch die Stirn: »Ansetzen? Du wirst dir das Ding kaum packen und mit deinen Schraubendrehern bearbeiten können.«
Sina zog eine Flappe: »Bildlich gesprochen! Gedanklich ansetzen, meine ich. Das Steuersystem ist primitiv und störanfällig. Die Schwachstelle – vielleicht die einzige, die wir so schnell finden. Schau: Die V-Raketen wurden allesamt mit einfachen Kreiselkompassen auf Kurs gehalten.« Sina zeigte auf eine Zeichnung, die eine halbierte V2 darstellte. »Eine vorsintflutliche Elektronik gab die Steuerungsbefehle an vier Stahlruder weiter. Das waren per Stromimpuls betätigte Platten, die direkt im Düsenstrahl liegen. Müssen mit Grafit beschichtet sein, um der enormen Hitze überhaupt standhalten zu können. Im Vergleich zur sonstigen Technik, die in dieser Rakete steckt, ist die Bahnsteuerung nichts weiter als ein schlechter Witz. Bloß eine unzulängliche Notlösung, aus dem großen Zeitdruck heraus geboren. Wir müssten versuchen …«
Weiter kam sie nicht. Touristen drängten in den Saal. Ein junges Pärchen. Ein Rentner. Eine Familie mit zwei aufgekratzten Kindern. Die Kids umlagerten sofort den Tisch mit dem Peenemündemodell. Das Modell war mit einem beschrifteten Tastenfeld ausgestattet. Eines der Kinder drückte den erstbesten Knopf auf dem Feld. Im selben Moment glimmte ein kleines Lämpchen neben einem der Miniaturgebäude auf. Das Kind wollte die nächste Taste drücken, da spürte es eine Hand auf seiner Schulter. Erschrocken wich es zurück.
»Keine Angst«, sagte ein adrett gekleideter Herr mittleren Alters und schmunzelte. »Gleich
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