Doch die Sünde ist Scharlachrot
und wieder an das erinnerten, was er so verzweifelt zu vergessen suchte.
»Sie müssen vorsichtig sein«, sagte Havers. »Mehr will ich gar nicht sagen. Nur so viel noch: Wir müssen sie genauso unter die Lupe nehmen wie alle anderen auch.«
»Das weiß ich«, erwiderte er.
»Wissen ist immer eine Sache, Superintendent. Glauben ist etwas anderes.«
Daidre saß auf einem Schemel am Kopf der Arbeitsplatte in der Küche. Sie hatte die Postkarte, die sie am vorherigen Nachmittag an dem Flohmarktstand in St. Sithy erstanden hatte, gegen eine Linsendose gelehnt. Sie betrachtete den Zigeunerwagen und die Landschaft, in der er stand. Ein müdes Pferd graste in der Nähe. Pittoresk, dachte sie. Ein bezauberndes Bild einer längst vergangenen Zeit. Gelegentlich sah man diese Gefährte noch auf einem Landsträßchen in diesem Teil der Welt. Aber heutzutage dienten die Wagen mit ihren gerundeten Dächern und bunt bemalten Seitenwänden in erster Linie Touristen, die für kurze Zeit Zigeunerleben spielen wollten.
Als sie die Postkarte so lange angesehen hatte, wie sie es ohne handeln zu müssen vermochte, verließ sie das Haus. Sie stieg ins Auto, setzte zurück und fuhr in Richtung Polcare Cove und zum Strand hinunter. Die Nähe zum Strand erinnerte sie an den gestrigen Abend, an den sie lieber nicht gedacht hätte, aber er ging ihr einfach nicht aus dem Kopf: der gemächliche Rückweg zum Auto mit Thomas Lynley, die ruhige Stimme, mit der er ihr von seiner toten Frau erzählt hatte. Es war fast vollkommen dunkel gewesen, sodass sie, abgesehen von den gelegentlichen Lichtern der Häuser und Cottages oben auf der Klippe, nichts hatte sehen können als sein beunruhigendes Patrizierprofil.
Helen war ihr Name gewesen, und sie hatte aus einer ähnlichen Familie wie er selbst gestammt. Als Tochter eines Earls, die einen Earl geheiratet hatte, hatte sie sich mühelos in der Welt bewegt, in welche sie geboren worden war. Aufgrund ihrer unzureichenden Bildung anscheinend von Selbstzweifeln geplagt – auch wenn Daidre diese Information über Helen Lynley kaum glaubhaft fand – und gleichzeitig doch außergewöhnlich gütig, geistreich, amüsant, gesellig und unternehmungslustig. Ausgestattet mit bewunderns- und beneidenswerten Eigenschaften.
Daidre konnte sich nicht vorstellen, wie er den Verlust einer solchen Frau überlebt haben oder wie jemand sich mit einem derartigen Verlust je abfinden sollte, der durch Mord hervorgerufen worden war.
»Zwölf Jahre alt«, hatte er erzählt. »Niemand weiß, warum er auf sie geschossen hat.«
»Es tut mir so leid«, hatte sie erwidert. »Sie klingt wunderbar.«
»Das war sie.«
Daidre bog an derselben Stelle ab wie immer, nutzte den kleinen Parkplatz von Polcare Cove als Wendepunkt, um ihren Wagen in die Richtung zu bringen, die sie von hier fortführen würde. Hinter sich hörte sie die Brecher auf dem zerklüfteten Schieferriff, und vor sich sah sie das uralte, weite Tal und oberhalb davon Stowe Wood, wo die Bäume auszuschlagen begannen. Bald würden Sternhyazinthen in ihren Schatten blühen und einen saphirblauen Teppich über den Waldboden legen, der in der Frühlingsbrise wogte.
Sie fuhr hügelan und aus der Bucht heraus, folgte dem Zickzackkurs der Sträßchen, den die Natur dieses Landes und die Besitzverhältnisse vorgegeben hatten. So gelangte sie zur A39 und fuhr nach Süden. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich. An der Columb Road hielt sie vor einer Bäckerei an und erstand einen Becher Kaffee und ein Pain au Chocolat. Mit dem jungen Mann hinter der Theke führte sie ein längeres Gespräch über Schokoladenkonsum ohne schlechtes Gewissen und ließ sich sogar eine Quittung für ihren Einkauf geben, die sie in ihre Brieftasche steckte. Man konnte schließlich nie wissen, wann die Polizei ein Alibi verlangte, dachte sie säuerlich. Es schien das Beste, über jeden ihrer Schritte einen Nachweis zu führen und dafür zu sorgen, dass die Menschen, deren Geschäfte man unterwegs aufsuchte, sich später lebhaft daran erinnerten. Und was das Pain au Chocolat betraf: Was waren schon ein paar überflüssige Kalorien, gemessen an dem Unterfangen, die Behauptung ihrer Unschuld zu untermauern?
Als sie wieder aufbrach, erreichte sie nach kurzer Zeit den Kreisverkehr, der sie zur A30 brachte. Von dort aus war es nicht mehr weit, und die Strecke war ihr vertraut. Sie umfuhr Redruth, bog einmal falsch ab, wendete aber gleich wieder und gelangte schließlich zu der Kreuzung der B3297 und
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