Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
lag hell in der Nachmittagssonne und war schlicht eingerichtet: ein Sofa und zwei Sessel und vor dem Fenster ein Tisch und ein paar Stühle. Gabrielle nahm einige Schulbücher von einem der Sessel. »Die gehören meinem Sohn Henri«, sagte sie. »Er sollte eigentlich hier sein und seine Hausaufgaben machen, aber er hat sich davongestohlen. Setzen Sie sich doch bitte.«
»Ich kann kaum glauben, dass Sie so schnell gekommen sind«, fuhr sie fort, nachdem sie ihm gegenüber Platz genommen hatte. »Sie haben Marseille wohl gleich nach dem Gespräch mit Marcels Bruder verlassen?«
Er nickte. »Ich hatte das Gefühl, dass es dringend ist. Und jetzt erzählen Sie mir bitte, seit wann Belle hier ist und woher sie gekommen ist.«
»Sie kam kurz nach Weihnachten. Ich glaube, sie kam aus dem Süden des Landes, weil die Züge aus diesem Teil Frankreichs am Gare de Lyon eintreffen. Sie hat mir nichts über sich erzählt, nur auf Englisch nach einem Zimmer gefragt. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie vor jemand weggelaufen ist, weil sie unter ihrem Mantel ein Abendkleid trug und weder Hut, Schal, Handschuhe noch Gepäck bei sich hatte. Später erzählte sie mir, dass ihr Koffer gestohlen worden wäre, und fragte mich nach einem Geschäft mit guter gebrauchter Kleidung.«
Jeanne klopfte an und kam mit einem Tablett mit einer Kanne Kaffee und Tassen herein. Gabrielle wartete, bis das Mädchen wieder gegangen war, und berichtete dann hastig, wie sie erraten hatte, womit Belle ihr Geld verdiente.
»Wenn ich so etwas merke, fordere ich die Mädchen normalerweise auf, mein Haus zu verlassen«, sagte sie. »Ihnen ist sicher klar, dass solche Frauen oft Ärger mit sich bringen. Man nimmt sie auf, und ihre Freunde folgen. So etwas will ich in meinem Hotel nicht.«
Etienne lächelte leicht. »Und warum haben Sie Belle bleiben lassen?«
»Weil sie eine Dame ist, ruhig, höflich, gepflegt und charmant. Sie ist ein warmherziger Mensch, immer zu einem Lächeln bereit und sehr rücksichtsvoll. Aber das ist Ihnen doch sicher bekannt?«
»Allerdings. Aber haben Sie sie auf ihre Tätigkeit angesprochen?«
»Nein. Ich glaube, ich hatte Angst, ich würde sie verschrecken.«
Gabrielle erzählte weiter, wie Belle von einem Botenjungen gelegentlich eine Nachricht erhielt und später am selben Tag von einer Droschke abgeholt wurde. Sie sagte, das Mädchen sei oft die ganzeNacht ausgeblieben und erst früh morgens zurückgekommen. Dann kam sie zu dem Abend, an dem sie Belle zum letzten Mal gesehen hatte.
»Ich hatte das Gefühl, dass sie den Mann kannte, mit dem sie verabredet war. An diesem Abend habe ich sie zum ersten Mal gewarnt und ihr geraten, dieses Metier aufzugeben und nach England zurückzugehen.« Gabrielle sah Etienne direkt in die Augen. Ihre Unterlippe bebte leicht. »Sehen Sie, ich weiß aus erster Hand, was für schlimme Dinge einem jungen Mädchen wie ihr zustoßen können. Eine Weile mag so etwas gut gehen, aber irgendwann trifft man auf einen Mann, der gefährlich ist. Und ich fürchte, genau das ist ihr passiert.«
Sie zeigte Etienne den Zettel, den sie in Belles Zimmer gefunden hatte. Er betrachtete ihn eingehend. »Monsieur Le Brun, ein sehr verbreiteter Name! Wie kommen Sie auf die Idee, dass sie diesen Mann schon einmal getroffen hatte?«
»Sie hatte sich mit ihrem Aussehen viel Mühe gegeben und sah besonders hübsch aus, und sie war aufgeregt, als würde sie sich darauf freuen, mit einem Mann, den sie wirklich mochte, in ein schickes Lokal zu gehen.«
»Sie glauben also, dass er ein reicher Mann war?«
»Sie war nicht für einen Abend mit einem armen Mann gekleidet.«
»Könnte ich mir vielleicht ihr Zimmer ansehen?«, fragte Etienne.
»Natürlich. Ich wollte Ihnen eigentlich vorschlagen, dass Sie dort einziehen.«
»Ich glaube kaum, dass ich heute Nacht viel zum Schlafen kommen werde.« Etiennes Mund verzog sich zu einem Lächeln, aber seine Augen blieben kalt. »Ich muss sofort mit meinen Nachforschungen anfangen. Aber bevor ich gehe, will ich mir ihr Zimmer anschauen. Die persönlichen Dinge einer Frau verraten oft sehr viel über sie.«
Gabrielle ging mit ihm ins nächste Stockwerk, sperrte die Tür auf und reichte ihm den Schlüssel. »Bevor Sie gehen, gebe ich Ihnen noch den Haustürschlüssel«, sagte sie.
Nachdem Gabrielle nach unten gegangen war, stand Etienne eine Weile einfach im Zimmer und sah sich um. Er nahm den Duft eines schweren Parfüms wahr. Er registrierte die ordentlich aufgereihten
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