Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Kampfgeist regte – wie die ersten grünen Blätter, die sich an den Hecken zeigten. Nach Paris zurückzukehren, würde ihn zweifellos wieder in Berührung mit diesem Abschaum bringen, von dem er sich ein für allemal abgewandt hatte.
Aber dann sah er vor seinem geistigen Auge, wie Belle ihn aufopfernd pflegte, als er auf dem Dampfer seekrank war, und hörte ihre entzückten Rufe, als sie New York erkundeten. Und er erinnerte sich auch noch gut daran, wie sehr er in jener Nacht, als sie sich in seine Koje gelegt hatte, in Versuchung geraten war.
In den Monaten, nachdem er sie in New Orleans zurückgelassen hatte, war sie ihm immer wieder durch den Kopf gegeistert. Er hatte gehofft, dass man ihn wieder dorthin schicken würde, um nach ihr zu sehen. Immer wenn er Elena anschaute, plagte ihn sein schlechtes Gewissen, denn waren solche Gedanken nicht genauso schlimm wie tatsächlicher Ehebruch?
Aber das Wissen, dass Belle ihn als einzigen Menschen genannt hatte, dem sie vertraute, bedeutete, dass er ihr helfen musste. Was hatte er schon zu verlieren? Alles, was ihm im Leben etwas bedeutet hatte, existierte nicht mehr.
Er drehte sich um und ging ins Haus. Wenn er jetzt aufbrach, konnte er schon heute Abend in Paris sein.
Belle brach in Tränen aus, als der Absatz ihres Schuhs auf den Boden fiel. In dem verzweifelten Versuch, das Loch in der Bretterverkleidung vor dem Fenster zu vergrößern, hatte sie stundenlang auf das Holz eingehämmert. Als der Absatz des ersten Schuhs abbrach, ruhte sie sich ein wenig aus und machte dann weiter, aber jetzt war auch der zweite Schuh kaputt, und sie konnte nichts mehr tun. Nicht dass sie viel erreicht hätte – im Holz war nur eine leichte Delle zu sehen –, aber solange sie hämmerte, hatte wenigstens noch Hoffnung bestanden. Jetzt nicht mehr.
Ihr war elend und schwindlig vor Hunger, und sie war sich nicht mehr sicher, ob sie seit zwei oder drei Tagen hier war. Was hattePascal vor? Wollte er sie so sehr schwächen, dass sie sich nicht mehr wehren konnte, wenn er zurückkam? Oder wollte er sie einfach hier sterben lassen?
Von Zeit zu Zeit wehten Essensdüfte zu ihr herauf und folterten sie. Wenn ein Restaurant in der Nähe war, warum hörte dann niemand ihr Schreien und Hämmern? Sie hatte vor allem Lärm geschlagen, wenn kein Licht durch das kleine Loch fiel, weil sie dachte, dass man sie eher hören würde, wenn es auf der Straße ruhig war. Aber sie konnte nicht mehr zwischen Abend und Nacht unterscheiden und wusste nie, wie lang sie geschlafen hatte.
Zweimal hatte sie ein Akkordeon gehört, ein vertrauter Klang, den sie sehr gern hatte. Wenn die Musik zu ihr drang, warum konnte dann niemand sie hören?
Sie schlurfte zum Bett zurück und spürte dabei unter ihren Füßen die verbogenen und gebrochenen Haarnadeln, mit deren Hilfe sie versucht hatte, das Türschloss zu öffnen. Jetzt hatte sie nichts mehr, was sie benutzen konnte; sie hatte die Fischbeinstützen aus ihrem Mieder herausgezogen und ihre Strumpfhalter abgenommen, und alles, aber auch alles war kaputt gegangen. Sie war geschlagen. Und in dem Krug befand sich nur noch ein kleiner Rest Wasser.
Sie konnte sich genauso gut hinlegen und auf den Tod warten. Ihre Lage war hoffnungslos.
KAPITEL 31
Gabrielle saß an ihrem Empfangstisch in der Halle, als ein Mann hereinkam. Als Erstes fiel ihr sein hellgrauer Anzug auf, denn er war erstklassig geschnitten, und es kam nur selten vor, dass ihre männlichen Gäste so teuer gekleidet waren oder ein so gewandtes Auftreten wie dieser Mann hatten. Als er sie ansprach, wirkte seine tiefe Stimme in Verbindung mit seinen kalten blauen Augen fast lähmend auf sie. »Ich bin Etienne Carrera«, sagte er. »Ich glaube, Sie erwarten mich.«
Sie schnappte nach Luft. »Ich habe mir so gewünscht, dass Sie kommen, aber es nicht zu hoffen gewagt«, brachte sie heraus und fühlte sich wie eine einfältige Sechzehnjährige. Nach kurzem Zögern stand sie auf und streckte ihre Hand aus. »Ich bin Gabrielle Herrison. Und ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee und etwas zu essen anbieten? Sie haben eine lange Fahrt hinter sich.«
»Ein Kaffee wäre sehr schön«, sagte er.
Sie drückte auf die kleine Klingel, und eine ältere Frau mit weißer Schürze kam aus dem Speisezimmer. »Ah, Jeanne! Würdest du uns bitte Kaffee in meinen Salon bringen?«
Sie ging zum Halbgeschoss voraus und bat Etienne in ein kleines Zimmer, das auf den Hinterhof ging. Es
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