Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. »Ich würde nie etwas weitererzählen, was du mir anvertraust«, sagte er. »Meine Ma war echt streng, wenn es darum ging, Versprechen zu halten und die Wahrheit zu sagen. Komm, schieß los! Vielleicht geht es dir dann besser.«
Jetzt sprudelte alles aus Belle heraus. Gelegentlich war ihr Bericht unzusammenhängend; sie fand nicht die richtigen Worte und genierte sich für das, was der Mann mit Millie gemacht hatte, bevor er sie umbrachte. Schließlich erklärte sie, dass ihre Mutter darauf bestanden hatte, dass Belle aussagen sollte, sie hätte zum Zeitpunkt des Mordes im Bett gelegen und geschlafen.
Jimmy sah schockiert und bestürzt zugleich aus.
»Bis zu dieser Nacht hatte ich keine Ahnung, was die Mädchenmit den Männern machen«, flüsterte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen, so sehr schämte sie sich.
Sie fing an zu schluchzen, vergoss die bitteren Tränen, die sie direkt nach dem Vorfall hätte vergießen sollen. Jimmy schien das zu spüren, denn er legte seine Arme um sie, drückte sie fest an seine Schulter und ließ sie weinen.
Irgendwann versiegte ihr Tränenfluss, und sie wand sich aus seinen Armen und suchte nach ihrem Taschentuch, um sich die Nase zu putzen. »Was musst du bloß von mir denken?«, rief sie und errötete erneut vor Verlegenheit.
»Ich denke, dass du sehr lieb und wunderschön bist«, sagte er und nahm ihr das Taschentuch weg, um ihre Augen behutsam trocken zu tupfen. »Seit wir uns begegnet sind, habe ich nur noch an dich gedacht. Ich wünschte bloß, ich könnte irgendetwas sagen oder tun, damit es dir besser geht.«
Belle lugte unter gesenkten Lidern hervor und sah die Aufrichtigkeit in seinen Augen. »Ich habe mich so danach gesehnt, dich zu sehen, seit das passiert ist«, sagte sie leise. »Es war einfach grauenhaft, und zu Hause will niemand mit mir darüber sprechen. Ich hatte das Gefühl, du würdest mich verstehen, aber irgendwie kam es mir auch albern vor. Ich kenne dich doch kaum.«
»Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, wie lange man jemanden kennt. Meinen Onkel kenne ich mein Leben lang, aber ihm könnte ich mich nie anvertrauen. Aber mit dir habe ich nur ein paar Minuten geredet und dir schon alles Mögliche über meine Mutter erzählt«, erwiderte er.
Er legte seinen eiskalten Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht, damit sie ihn anschaute. »Meiner Meinung nach ist es falsch von deiner Mutter, der Polizei nicht zu sagen, wer es war und dass du es gesehen hast. Trotzdem verstehe ich, warum sie es nicht tut. Sie hat Angst, dass dir etwas zustoßen könnte. Und das beweist, dass ihr doch etwas an dir liegt.«
»Was bringt dich auf die Idee, es könnte nicht so sein?«, fragte Belle.
Jimmy zuckte die Achseln. »Einfach die Art, wie du über sie sprichst«, meinte er. »Als hättest du Angst vor ihr.«
»Jeder hat ein bisschen Angst vor ihr.« Belle brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Es ist nicht leicht, mit ihr auszukommen. Mog ist da ganz anders. Ich habe mir oft gewünscht, sie wäre meine Mutter.« Belle sprach ganz allgemein darüber, wie es war, in einem Haus voller Frauen aufzuwachsen. »Wenn ich nicht Bücher und Zeitungen lesen würde, wüsste ich wahrscheinlich überhaupt nicht, wie es ist, einen Vater zu haben«, schloss sie.
»Bei mir war es so ähnlich«, sagte Jimmy nachdenklich und legte wieder seinen Arm um sie. »Es gab immer nur Ma und mich und Besuche von den Damen, für die sie genäht hat. Alle paar Monate kam Onkel Garth vorbei, und er hat immer gesagt, dass sie einen Weichling aus mir macht. Damals wusste ich nicht, wie Männer seiner Meinung nach sein sollen, und jetzt, wo ich sie in seiner Schänke sehe, will ich nicht so sein wie sie. Du hättest doch auch nicht gern einen Vater, der wie die Männer ist, die zu deiner Mutter ins Haus kommen, oder?«
Belle lächelte schief. »Ich nehme an, er war einer von ihnen. Aber abgesehen von dem Mörder habe ich nie einen der Männer gesehen, und sie können nicht alle so wie er sein.«
»Kennst du den Namen des Mannes?«
»Er nannte sich Mr. Kent, aber Ma hat gesagt, dass er als ›der Falke‹ bekannt ist. So einen Namen bekommt man nur, wenn man sehr gefährlich ist.«
Sie gingen weiter, damit ihnen nicht zu kalt wurde, und spazierten direkt am Embankment entlang bis zur Westminster Bridge. Als Belle ungefähr neun war, hatte Mog mit ihr einmal einen Ausflug gemacht, um ihr den Trafalgar Square, die Horse Guards, Westminster
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