Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
spazieren zu gehen, zu lesen und zu nähen, gaben ihnen reichlich Gelegenheit, die Mittelschicht zu beobachten, sich ihrem Verhalten anzupassen und sich gleichzeitig eine wohlverdiente Ruhepause zu gönnen.
Aber als Belle jetzt zusah, wie Mog zum Altar ging, wo Garth mit seinem Trauzeugen John Spratt, einem alten Freund, wartete, wusste sie, wie froh Mog war, dass die erzwungene Untätigkeit ein Ende hatte. Endlich konnte sie aus den Räumlichkeiten über dem Lokal ein richtiges Zuhause machen und Garth für immer an ihrer Seite haben.
»Mog sieht hinreißend aus«, wisperte Annie Belle zu. »Und ihr Hut könnte direkt aus der Bond Street kommen. Du hast wirklich Talent zur Modistin. Und du siehst auch wunderhübsch aus!«
Belle strahlte über das Lob ihrer Mutter. Sie trug ein blassrosa Kunstseidenkleid mit Rüschen am Saum und einen weißen Hut, und sie hatte alles selbst gemacht. Sie wusste, dass Annie ihr nie so nahestehen würde wie Mog, aber sie gaben sich beide große Mühe.
Nach jenem schrecklichen Tag mit Kent war Garth zu Annie gegangen und hatte darauf bestanden, dass sie zu ihrer Tochter ging und ihren Anteil am Geschehen erklärte. Damals hatte Belle ihre Mutter von einer ganz anderen Seite erlebt: Sie war eine verwundbare Frau, die sich hinter einen Panzer zurückgezogen hatte, weil sie glaubte, sich so vor weiteren Verletzungen schützen zu können.
Wie sich herausstellte, war ein Mann, der Annie von früherkannte, als Logiergast in ihrer Pension abgestiegen. Weil er ohnehin schon sehr viel über sie zu wissen schien und sehr nett wirkte, vertraute Annie ihm alles über Belle an, unter anderem auch, dass sie ihre Tochter seit ihrer Rückkehr aus Frankreich noch nicht gesehen hatte.
Als Annie von dem Brief erfuhr, der angeblich von ihr stammte, wurde ihr klar, dass ihr Gast mit Kent unter einer Decke gesteckt hatte und nur bei ihr aufgetaucht war, um sich Informationen über Belle zu verschaffen. Später gab er sein Wissen an Kent weiter, der daraufhin den Brief an Belle fälschte.
Annie gab zu, dass sie nach Belles Rückkehr sofort ins Ram’s Head hätte gehen müssen, aber einiges von dem, was in dem falschen Brief stand, traf zu. Sie schämte sich, weil sie Mog im Stich gelassen und nur an sich selbst gedacht hatte; aber als Jimmy ihr vor einem Jahr deswegen Vorwürfe gemacht hatte, bekam sie das Gefühl, dass alle gegen sie waren.
»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du denselben furchtbaren Dingen ausgesetzt warst wie ich, als ich ein junges Mädchen war«, schluchzte sie. »Fast schien es besser zu glauben, du wärest tot und all diese Qualen wären dir erspart geblieben. Jedes Mal, wenn Mog, Jimmy oder Noah zu mir kamen, hatte ich das Gefühl, dass meine Wunden wieder aufgerissen wurden. Im Gegensatz zu ihnen konnte ich einfach nicht glauben, dass wir dich je wiedersehen würden.«
Belle hatte Verständnis für ihre Mutter. Wenn das Band zwischen ihnen so stark gewesen wäre wie das zwischen ihr und Mog, hätte Annie vielleicht tief im Innersten gespürt, dass ihre Tochter noch lebte. Sie fand, dass ihre Mutter Mitleid verdiente und nicht länger bestraft werden sollte, indem sie von Belles Leben ausgeschlossen wurde. Seit damals hatte Belle sie alle zwei bis drei Wochen in King’s Cross besucht. Da Annie in ihrer Jugend ganz ähnliche Erfahrungen wie Belle gemacht hatte, unterhielten sie sich darüber, manchmal unter Tränen, manchmal lachend. Belle hatte das Gefühl, dass es ihnen beiden guttat, sich einander anzuvertrauen.
Sie bewunderte an ihrer Mutter, wie geschäftstüchtig sie war und wie hart sie arbeitete. In ihrem Haus wurden nicht nur saubere, gemütliche Zimmer angeboten, sondern auch Frühstück und Abendessen für ihre Gäste. Das Kochen übernahm sie ebenso wie einen Großteil des Saubermachens selbst, weil sie nur ein Dienstmädchen als Haushaltshilfe hatte, aber trotzdem wirkte sie viel glücklicher als in den alten Zeiten in Seven Dials.
Annie war es, an die Belle sich um Rat wandte, als endlich ein Brief von Etienne eintraf. Sie wusste, dass Mog unerschütterlich zu Jimmy halten würde.
Etiennes Brief war seltsam, nicht nur, weil es ihm schwerfiel, auf Englisch zu schreiben, sondern auch, weil Belle das Gefühl hatte, dass er seine wahren Gefühle vor ihr verbarg. Er berichtete, dass er bei der französischen Polizei alles ausgesagt hatte, was er über den Mädchenhandel wusste, und dass Madame Sondheim sowie etliche andere verhaftet worden waren und
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