Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Zeichensprache und Mimik zu fragen, was mit ihr geschehen sollte, und ihnen begreiflich zu machen, dass sie einen Brief an ihre Mutter schreiben wollte, aber sie schüttelten nur den Kopf, als hätten sie keine Ahnung, was Belle meinte.
Also schwankte Belle zwischen der Befürchtung, dass sie wie Hänsel und Gretel gemästet wurde, bevor man sie einem Mann zuführte, und der Hoffnung, dass nichts dergleichen passieren würde, weil Madame Sondheim sie für ungeeignet hielt und vorhatte, sie bei nächster Gelegenheit nach England zurückzuschicken.
Das Zimmer, in dem sie festgehalten wurde, befand sich unter dem Dach und hatte nach vorn zum Fenster hin schräge Wände. Die Kammer war klein, ziemlich dunkel und bescheiden eingerichtet: ein schmales Eisenbett, ein Waschtisch, ein kleiner Tisch undein Stuhl vor dem Fenster. Aber es war warm, und sie hatte es hier recht bequem, auch wenn Belle die Speisen, die man ihr vorsetzte, ein wenig seltsam fand. Im Zimmer fand sie auch einen Stapel Puzzles, die ihr halfen, sich die Zeit zu vertreiben.
Eine Flucht war völlig ausgeschlossen. Gleich am ersten Morgen war Belle aus dem Fenster geklettert, um zu sehen, ob sie auf diesem Weg auf die Straße gelangen konnte, aber schon auf dem Fensterbrett musste sie feststellen, dass die glatte Wand auf der Rückseite steil in die Tiefe reichte. Und was das Dach anging, so hatte sie zu viel Angst, den Versuch zu wagen, über die losen, alten Ziegel zu klettern, um zu überprüfen, ob es auf der Vorderseite einen Fluchtweg gab. Außerdem bezweifelte sie, dass Madame Sondheim das Fenster unvergittert gelassen hätte, wenn es eine derartige Möglichkeit gäbe.
An der Tür zu lauschen, brachte nichts. Sie hörte gelegentlich Schritte und Stimmen, aber es wurde ausschließlich Französisch gesprochen. An den Abenden konnte sie von unten Musik und hin und wieder schallendes Gelächter hören, dieselben Geräusche, die sie aus London kannte. Aber zu Hause war Mog jeden Abend ein paar Mal zu ihr gekommen, das letzte Mal gewöhnlich, um Belle gut zuzudecken und ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Hier kam nach dem Abendessen niemand mehr zu ihr, und zweimal war das Öl in der Lampe am Abend ausgegangen, so dass sie ihr Puzzle im Stich lassen und zu Bett gehen musste.
Abendessen gab es meistens recht spät; einmal hörte sie die Kirchturmuhr acht schlagen, als sie aß. Deshalb ahnte sie, dass irgendetwas passieren würde, als man ihr am fünften Abend das Essen lange vor Einbruch der Dunkelheit brachte.
Es gab eine sehr schmackhafte Gemüsesuppe mit ein paar Brotstücken, gefolgt von Fischpastete und Kartoffeln und dazu auch das übliche Glas Sirup, aber heute schmeckte er anders als sonst. Vielleicht hatte man Wein dazugegeben, dachte Belle, leerte das Glas aber trotzdem.
Als die Tür wieder aufging, erschien, wie vermutet, eines derMädchen, um das Tablett abzuräumen. Es war die kleinere der beiden, und sie war in Begleitung von Delphine, der Haushälterin, die Belle am ersten Abend auf das Zimmer gebracht hatte. Sie sprach sehr schnell auf Französisch, und als Belle sie nur verständnislos anstarrte, winkte sie das Mädchen zu sich.
Belle freute sich zwar, endlich einmal aus dem Zimmer herauszukommen, fürchtete sich aber auch ein bisschen. Delphine ging mit ihr zwei Stockwerke weiter nach unten und führte sie in ein Badezimmer.
Das Bad war schon eingelaufen, und die beiden Frauen fingen an, Belle auszuziehen.
»Das kann ich selbst machen«, sagte sie und stieß sie unsanft weg. »Lasst mich in Ruhe!«
Man hatte ihr gleich am ersten Abend ihr Kleid aus dunkelblauem Serge weggenommen und ein viel hübscheres, leichtes grünes Kleid gegeben. Es hatte Rüschen an Saum und Kragen und eine Schärpe aus grün getupfter Seide. Trotz ihrer Angst hatte sie sich über das Kleid gefreut, weil es sehr schön war und sie sich dachte, dass diese Leute ihr vielleicht nichts Böses tun wollten, wenn ihnen etwas daran lag, wie Belle aussah. Jetzt entdeckte sie auf dem Hocker im Badezimmer ein sauberes, spitzenbesetztes weißes Hemd und Höschen. Vielleicht wollte man sie irgendwo anders hinbringen.
Belle gefiel es gar nicht, dass die Frauen bei ihr blieben, bis sie nackt war, und offensichtlich vorhatten, sie zu waschen wie ein kleines Kind. Aber da sie sich nicht verständlich machen konnte und völlig wehrlos war, musste sie es mit sich geschehen lassen.
Sie schrubbten sie von oben bis unten ab, als wäre sie ein verdreckter Landstreicher, den
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