Doctor Boff - Weiberkranckheiten
entstand Neugier, wurde befriedigt, und dann war es gut. Aber hier pendelte sich nichts auf das alte Maß ein und das hatte einen einfachen Grund: Die Leute waren mit ihrem neuen Doctor sehr zufrieden. Er sprach mit ihnen in einer Sprache, die sie verstanden. Er ließ ihnen Flunkereien nicht durchgehen, aber wie er sie darauf hinwies, dass sie sich als durchschaut betrachten konnten, hatte nichts von einem Oberlehrer, es geschah mit Nachsicht und Lächeln. Der Bauersfrau Wipp hatte er geraten: »Warum werdet Ihr nicht unser neuer Bürgermeister? Der kann auch nicht besser flunkern!«
Das waren Sätze, die aus Patienten Freunde machten.
Manchmal war er ihnen zu nüchtern. Wo der Heiler auf dem Markt seine Erfolgsgeschichten mit drastischen Worten würzte, kam beim Doctor nur ein Vortrag über Körperteile, Ursache, Wirkung und das Zusammenspiel von Nerven und Muskelnheraus. Das wollte keiner hören. Ursache und Wirkung? Was war das denn? Die Geschichte von dem Einsiedler, der von einem Wolf gebissen worden war und dem später ein zweiter Kopf in Form einer Wolfsschnauze gewachsen war – aus diesem Holz waren Geschichten geschnitzt, die Feuer auf die Wangen der Patientin zauberten.
Noch besser gefiel den Patientinnen nur die Behauptung des Doctors, dass es sich bei Hermine um seine »Hand« handelte, die Person, die die Untersuchungen am Körper durchführte. Die Hand des Doctors mochten alle gern. Hermine war jung, patent und rücksichtsvoll. Angeblich sei nichts zwischen ihm und Hermine. Diese Vorstellung fanden die meisten Patientinnen so unglaubwürdig, dass einige nachgefragt hatten. Direkt, sehr direkt, so direkt, dass es selbst dem hartgesottenen Mann die Sprache verschlagen hatte. »Wir sind Kollegen und Freunde« – das war das Äußerste, was er zugestand.
Kollegen! Freunde! Der Mann war nicht verheiratet, sah hinreißend aus, und Hermine wohnte mit ihm unter einem Dach. Für wie dumm hielt er denn die Frauen aus Halle?! Dass er ein Mann war, der Männer mochte, war in diesem speziellen Fall ausgeschlossen. Außerdem wollten einige gehört haben, dass der Doctor verheiratet gewesen war und seine Frau bei der Geburt des ersten Kindes gestorben war. So etwas kam vor, aber das passierte keinem Mann, der Männer mochte. Und kein Mann wurde durch so ein Schicksal zu einem Mann, der Männer mochte. Nein, nein, dieser Mann mochte Frauen, und Hermine mochte ihn. Das erkannte man daran, wie frech sie zu ihm war. So waren Frauen nur, wenn sie eine Räuberin waren oder verliebt. Aber man ließ ihm sein Geheimnis, das für alle anderen keines mehr war.
Halle hatte seinen neuen Stadtphysicus angenommen. Halle war bereit, die von ihm verschriebene Medizin einzunehmen. Zwar gab sich Boff keine Minute der Hoffnung hin, er könne das Behandlungs-Monopol besitzen. Dafür trieben sich zu vieleheilende Halunken in der Gegend herum. Aber er erreichte das Maximum dessen, was möglich war. Menschen wandten sich bei Krankheiten an den Vertreter einer vernünftigen Medizin, und jeder Dritte gab Anlass zur Hoffnung, dass er einen Zusammenhang zwischen manchen Krankheiten und der eigenen Lebensweise für möglich hielt. Boff kannte gute Argumente, um diese Botschaft auch sturen Zeitgenossen einzubläuen. Jeder kannte starke Trinker und wusste, dass sie schnell alterten, schlecht Luft bekamen, einen schwachen Magen hatten und irgendwann begannen, dummes Zeug zu reden. Jeder wusste, welche Donnerfürze Kohl und Bohnen erzeugten. Einige wussten sogar, dass ein Leben in Schmutz zu mehr Krankheiten führte als eine Lebensweise in Gegenwart von Wasser – sauberem Wasser. Jeder kannte die einfachen Mittel gegen Nasenbluten. Jeder wusste, dass man sich bei Fieber schonen musste. Bei Schwangerschaften und bei der Behandlung von Säuglingen war unter den Frauen eine ungeheure Menge Wissen verbreitet.
»Es gibt tausend Menschen, von denen jeder über eine bestimmte Krankheit etwas kennt, was anderen helfen könnte. Die neunhundertneunundneunzig übrigen kennen das nicht und müssen es sich, wenn sie das Wissen brauchen, erst mühsam besorgen. Versteht ihr, worauf ich hinauswill? Es ist nicht eine Frage des Wissens, also der Verfügbarkeit über Wissen. Es ist eine Frage, wie dieses Wissen verbreitet wird.«
»Na, das ist doch leicht«, erwiderte Hermine. »Es steht in Büchern.«
»Einspruch. Viele Menschen können nicht lesen. Viele Menschen sind zu arm, um sich ein Buch zu kaufen. Und nach fünf Jahren ist das, was in dem Buch
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