Doctor Boff - Weiberkranckheiten
aufdeckte.
In der offenen Haustür wurden sie erwartet. Der Bote erhielt ein kurzes Kopfnicken und empfahl sich, ohne ein Wort gesagt zu haben. Boff erhielt einen festen Händedruck.
Graf Argus, das wusste Boff vom Boten, war gerade vierzig geworden, er sah zehn Jahre älter aus. Die Schatten der Kerzenbeleuchtung gruben die Falten um Mund, Nase und Augen ein.
»Das werden wir Euch nicht vergessen«, sagte Argus und ließ den Arm seines späten Besuchers nicht los.
»Wir kennen uns nicht«, stellte Boff klar. »Ich kenne Eure Situation nicht. Ich habe noch nie von Euch gehört.«
Der Graf war darüber informiert, dass Boff erst nach dem Anschlag auf den Stadtphysicus auf der Bildfläche erschienen war. Er sah keine Probleme, die man nicht in zehn Minuten lösen konnte.
»Ihr werdet sie gleich erleben, das wird Euch in den Stand setzen.«
Es handelte sich um die Mutter des Grafen. Witwe seit elf Jahren, hatte sie bis vor zwei Jahren ein standesgemäßes Leben geführt: kultiviert, angemessen, unauffällig. Wie eine Frau zu sein hatte. Zumal sie sich in jungen Jahren als hinreichend fruchtbar erwiesen und fünf Kinder zur Welt gebracht hatte, von denen vier noch am Leben waren. Allerdings lebte nur Graf Argus in ihrer Nähe, alle anderen hatte die Heiratspolitik in entfernte Regionen verschlagen, wo sich die Töchter als fruchtbar und unauffällig, die Söhne als bemüht mit einem unübersehbaren Hang zur Mittelmäßigkeit erwiesen hatten. Graf Argus verwaltete den Wald der Sippe im Osten und Süden von Halle. Er hatte seine Mutter vor zwei Jahren aufgenommen, als sie sich verwandelt hatte. Von einem Tag auf den anderen war sie unruhig geworden. Sie lebte in Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden Unglücks, über dessen Einzelheiten sie sich nicht auslassen wollte. Es musste sich um etwas Schrecklicheshandeln, Menschenleben standen auf dem Spiel, Existenzen waren gefährdet, Peinlichkeiten würden öffentlich werden, die den Ruf der Betroffenen unheilbar zerrütten würden.
Graf Argus hatte keinen Verdacht, in welche Richtung die Panik seiner Mutter ging. Er war überrascht und hilflos. Das wiederholte er mehrfach, um mit leiser Stimme zu sagen: »Manchmal glaube ich, die Angst ist nur in ihrem Kopf. Ist das denn möglich?«
Boff hielt sich bedeckt, für eine Meinung war es zu früh.
So einen Raum hatte Boff noch nie gesehen. Auf den ersten Blick erkannte er, dass alles entfernt worden war, woran sich ein stolpernder Mensch wehtun könnte. Ein Bett, sehr niedrig, alle stützenden Teile mit Stoff umwickelt; ein Sessel, stark gepolstert; eine Recamière, auch hier nur Polster und Stoff. Mehrere Lagen Teppich übereinander, der Fuß sank ein, als würde man sich auf schwingendem Moorboden befinden.
Das Fenster war sehr hoch angebracht, unterhalb der Decke, die ebenfalls hoch war. Das Glas war größtenteils abgedeckt und abgeklebt. Runde Löcher im Fenster waren die einzige Verbindung zum Tageslicht.
Am seltsamsten war die Beleuchtung. Da es zu riskant war, Kerzen zu entzünden, hatte man auch das Licht in Sicherheit gebracht. Kerzen in Kugeln, die so hoch hingen, dass man selbst dann nicht heranreichen würde, wenn man auf den Sessel kletterte. Aber damit war bei der Person im Raum nicht zu rechnen. Die Frau war klein und sehr zart, unvorstellbar, dass ihre Kraft reichen würde, den Sessel zu bewegen. Hinfällig sah sie nicht aus. Wenn der Graf vierzig war, würde sie sechzig sein. Körperlich war sie für dieses Alter in ordentlicher Verfassung. Aber der Geist … Den Rücken an die Wand gepresst, stand sie neben dem Fenster, dem sie ihr Gesicht zuwandte. Sie hatte keinen Blick für die Männer, nur für das, was vor dem Fenster stattfand oder von dem sie glaubte, dass es stattfand.
»Mutter, ist es wieder da?«, fragte der Graf beklommen.
Sie eilte auf die Männer zu, packte die Hände ihres Sohns und sagte: »Du musst dich nicht ängstigen, mein Junge. Dir droht keine Gefahr. Sie wollen mich, aber sie werden mich nicht bekommen.«
Erst in diesem Moment blickte sie den Fremden an. Ein Ruck ging durch den schmächtigen Körper, als habe sie einen Peitschenhieb erhalten. Sie klammerte sich an die Hände des Grafen, wollte etwas sagen, aber es kam nur Stottern und Stammeln heraus.
»Mutter, darf ich dir unseren Gast vorstellen. Das ist Doctor Boff, der neue Stadtphysicus, ein Doctor, der Frauen behandelt.«
Das Lächeln von Boff ging ins Leere, denn sie vermied seinen Blick. Er berührte sie nicht,
Weitere Kostenlose Bücher