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Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Titel: Doctor Boff - Weiberkranckheiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Klugmann
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er hielt einfach aus und war gespannt.
    »Soll weggehen«, flüsterte die Gräfin.
    »Aber Mutter, wir sind gute Gastgeber, und du bist die beste von uns allen. Der Doctor ist wegen dir gekommen.«
    »Ist das wahr? Er ist wegen mir hier? Er wollte mich sehen?«
    Von so einem Blick war Boff noch nie getroffen worden. Das wollte etwas heißen, denn in vielen Jahren als Doctor war er allen menschlichen Gefühlen und Zuständen begegnet: Angst, Wut, Schmerz, Verzweiflung, Blödsinnigkeit.
    Aber dieser Blick! Er kannte schon das Wort dafür und wollte es nur deshalb nicht denken, weil es zweifellos falsch sein musste. Sie sah ihn an wie eine liebende Mutter. In keinem Winkel ihrer Augen lauerte Wahnsinn. Sie war glücklich, reines Glück war es, dem Boff ins Auge blickte. Seine Hände hielt sie schon lange, sie waren klein und kräftig, kühl, aber durchblutet.
    »Wo bist du geblieben?«, fragte die Gräfin. »Es ist so lange her. So lange her, dass wir alle sicher waren, dich nie mehr zu sehen. Auch ich, ich als Letzte. Sie haben mir gesagt, ich soll mich abfinden. Ich habe ihnen gesagt, ich bin die Mutter. Ich bin nicht auf der Welt, um mich abzufinden. Eine Mutter darf hoffen, sie muss hoffen. Und jetzt bist du da und siehst besseraus als Argus, der gute Junge. Er versucht, alles so zu tun wie mein Mann, ich lasse ihn in dem Glauben, aber er kriegt es nicht hin. Er hat es nicht in sich. Du hast es in dir. Aber du musstest ja unsichtbar werden.«
    Boff hatte ihren Blick, der Blick war ruhig und sanft, und so setzte er alles auf eine Karte: »Wer bin ich?«
    Erstaunt lachte sie und blickte den Grafen an: »Er ist der Alte geblieben. Immer einen Scherz auf Lager.«
    Und zu Boff sagte sie: »Du bist Leopold, mein fünftes Kind, das ich so lange vermisst habe.«

13
    »Wir haben einen neuen Rekord aufgestellt.«
    Verdutzt blickte der Physicus Stine an, wie sie mit gefalteten Händen zufrieden an ihrem Tisch saß, vor sich die Papiere, die ihre Buchführung enthielten, eingetragen in einer Schrift, bei der zwei außergewöhnliche Tatbestände zusammenkamen. Sie war einerseits winzig klein, andererseits extrem unordentlich. Jeder, der erstmals Stines Listen sah, hielt es für ausgeschlossen, dass sie Namen und Adressen und Krankheiten darstellen sollten. Ein Zweifel war dennoch unmöglich, Stine schrieb ihr Leben lang so.
    Heute waren achtundachtzig Patientinnen erschienen, die letzte hatte die Räume erst abends verlassen. In den zwei Wochen, die der Betrieb nun unter dem neuen Physicus lief, hatten sich neue Sitten herausgebildet. An jedem Tag saßen der Doctor, Hermine und Stine nach dem Abgang der letzten Patientin einige Minuten zusammen. Boff spendierte einen Kräuterlikör, der tagsüber als Medikament gegen Unpässlichkeiten des Magens galt. Dann saß man im Behandlungszimmer, Hermine stets auf dem Stuhl des Doctors und Stine auf dem guten Sofa, während für Boff der eisenharte Stuhl neben der Tür übrig blieb.
    Stine berichtete: Zu Tänzers Zeiten war die Praxis gut besucht worden, in den frühen zwanziger Jahren und in den späten auch. Es hatte Tage gegeben, an denen Tänzer bis in den Abend hinein kuriert hatte. Die Frauen wegzuschicken und für den nächsten Tag erneut vorzuladen – das war ein Tabu. Andere Doctoren mochten so handeln, er nicht. Aber andere Doctoren beneideten den Physicus auch um seinen Zuspruch. Sechzig Namen pro Tag sammelten sich in Stines Ameisenschrift. Anguten waren es über siebzig, an schlechten nie unter vierzig. Und das waren lediglich die Menschen, die persönlich erschienen. In der Auflistung waren nicht die Briefe enthalten und nicht die Hausbesuche.
    »Das ist nur die Neugier«, behauptete Boff. »Das wird sich normalisieren. Passt auf, in einem Monat sitzen wir schon mittags zusammen, weil niemand zu uns kommt.«
    Die Frauen lachten gleichzeitig.
    »Jetzt erwartet er, dass wir ihm widersprechen«, teilte Hermine ihrer Kollegin mit.
    »Mein Mann war auch so eitel«, sagte Stine und zuckte zusammen. Sie besaß nicht Hermines Mut und Frechheit. Für sie war der Doctor eine Respektsperson. Wenn sie sich in der Hitze des Augenblicks zu einer unbotmäßigen Bemerkung hinreißen ließ, hatte sie lange daran zu kauen. Hätte sie gewusst, wie groß die Zufriedenheit des Doctors mit ihrer Arbeit war, wäre sie wohl noch stärker zusammengezuckt.
    Natürlich waren die Halleschen Frauen neugierig auf den neuen Doctor. Aber von allen Seiten hörte man, dass es mehr war. Im Normalfall

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