Doctor Boff - Weiberkranckheiten
erschöpft. Boff legte einen Arm um sie. Was immer Tänzer vorhatte, er sollte sich damit beeilen, sonst würden zwei Menschen sterben. Katarina hatte in den letzten Wochen sichtbar abgebaut. Einen Moment war Boff froh, dass es keine Kinder gab, sie wären jetzt alle im Raum gewesen, hätten gejammert und geklagt und den Doctor angefleht, das Unmögliche möglich zu machen. Man lernte so viel in seinem Beruf, jeden Tag wurde man ein kleines Stück klüger. Aber vor allem lernte man Demut, man erkannte seine Grenzen, und man erkannte, wie eng diese Grenzen gezogen waren. Nicht jeder Doctor ertrug das gut, und mancher wurde nie damit fertig. Leider waren darunter einige der besten Mediziner. Der Tod war stets anwesendund schlug zu, wie er wollte. Vielleicht hatte die Medizin in den letzten Jahrzehnten gar keine Fortschritte gemacht, vielleicht war der Tod nur schwächer geworden, vielleicht hatte er etwas anderes zu tun gehabt, und wenn das erledigt sein würde, wenn er sich wieder um die Menschen und ihre Angst vor dem Sterben kümmern konnte, würde alles wieder so sein wie im Jahre 1700 oder 1600.
Er sah, dass sie ihn beobachtete. »Ich bin stark«, sagte sie leise. »Auf mich müsst Ihr keine Rücksicht nehmen. Frauen sind stark. Sonst würden wir Euer Kriegführen und Lügen und Betrügen keinen Tag ertragen. Eines Tages werden wir Ärzte sein, und dann werdet Ihr Euch sehr wundern.«
21
Am Vormittag des folgenden Tages drängten vier Büttel vor dem Haus von Doctor Tänzer die Schaulustigen zurück. Ein Abend und eine Nacht hatten gereicht, um die Kunde vom Erwachen des praktisch Verstorbenen in der Stadt zu verbreiten. Was die Menge vor dem Haus wusste, galt als Wahrheit. Tänzer hatte die Augen geöffnet, wobei er einen Schrei ausgestoßen hatte, wie es die Wölfe tun. Seitdem hielt er die Augen offen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln und ohne zu schlafen. So wie er wochenlang mit geschlossenen Augen gelegen hatte, lag er mit jetzt mit offenen. Es war eine Frage von Stunden, bis er reden würde, danach würde er sich erheben, essen und trinken, das Klosett aufsuchen, sich rasieren lassen, die Kleider wechseln. Und in spätestens vier Wochen wäre der Mann wiederhergestellt.
Niemand dachte daran, nach Hause zu gehen. Man wollte anwesend sein, wenn Tänzer auf den Balkon treten würde, um eine Ansprache an die Stadt und ihre Bürger zu halten.
»Was ist das denn hier für ein Zirkus?«, rief Doctor Boff. Im Flur vor dem Krankenzimmer wimmelte es von Menschen. Boff stürmte ins Zimmer, wo sich gerade zwei Gestalten über den Kranken beugten. Boff sah das entsetzte Gesicht Tänzers, sprang hinzu und schleuderte die Gestalten gegen die Wand. Eine sank zu Boden und begann zu jammern. Die andere wollte einen Kampf mit dem Angreifer. Wäre Doctor Wünsch nicht dazwischengegangen, wäre es zum Äußersten gekommen.
»Was soll das hier und warum unterbindet Ihr es nicht?«, rief Boff erbost.
Angeblich war Wünsch erst vor wenigen Minuten eingetroffen, nachdem ihn ein Bürger alarmiert hatte, der um das Leben von Tänzer fürchtete. Vier Männer befanden sich mit dem Kranken im Raum. Einer nannte sich Heilseher, ein anderer gab sich als Zahnreißer aus, der prüfen wollte, ob die Wurzel des Übels in vereiterten Zähnen zu finden sei, die er an Ort und Stelle entfernen wolle, worauf Tänzer in zwei Tagen vollständig wiederhergestellt sein würde. Der dritte war ein Hexer, von dem Boff über Dritte schon gehört hatte. Er zog in der Region umher, beschwor die Mächte der Finsternis, arbeitete mit Rauch und schwarzen Tüchern und war geübt darin, die kranken Seelen aus dem Körper zu ziehen, ihnen den Hals umzudrehen und sie auf den Komposthaufen zu werfen, wo er sie mit Forken kurz und klein spießte, denn sonst würden sie wachsen und sich neue Opfer suchen.
Die vierte Gestalt saß seelenruhig auf einem Stuhl am Fenster und tat unbeteiligt. Der Tonfall von Boff gefiel dieser Gestalt nicht, der Mann bot dem Doctor an, seinen Jähzorn für ein geringes Honorar in Milde zu verwandeln. Daraufhin ging Boff ihm an die Gurgel, Wünsch wartete ungerührt, bis der Attackierte Zeichen von Luftnot zeigte, tippte Boff auf die Schulter und sagte: »Es reicht.«
Boff ließ von der Gestalt ab, die sich nun stöhnend als Experte in Sachen Urin bezeichnete. Er behauptete allen Ernstes, den Urin zu trinken und aus dem Geschmack die Krankheit zu erkennen. »Aber er pisst ja nicht«, stöhnte er. »Ich sitze hier seit dem Morgen,
Weitere Kostenlose Bücher