Doctor Boff - Weiberkranckheiten
aber der Herr ist sich ja zu fein dafür zu pissen.«
Wünsch stellte sich zwischen Boff und den Stöhnenden.
»Lasst mich«, knurrte Boff. »Ich will, dass er meinen Urin prüft. Wenn er erkennt, an welcher Krankheit ich leide, will ich ihn anerkennen. Wo ist ein Becher?«
Er hatte die Wahl unter drei bereitwillig hingehaltenen Behältnissen.
»Das meint Ihr nicht im Ernst«, sagte Wünsch, während Boff an der Hose nestelte.
»Das meint er nicht ernst«, bestätigte der Stöhnende. Aber er wusste, dass manche Menschen für Überraschungen gut sind. So hatte er sich innerlich gegen das Unabänderliche gewappnet, als ihm der Becher mit dem warmen Urin gereicht wurde.
»Keine Taschenspielertricks«, knurrte Boff und trat dicht vor den Beschauer, dem die letzten Felle davonschwammen.
Boff sagte: »Wenn Euch der Becher versehentlich aus der Hand fällt, werdet Ihr den Inhalt vom Boden auflecken wie eine Katze die Milch.«
Der Urinbeschauer schluckte, aber nicht den Urin. Mittlerweile hatten alle im Raum mitbekommen, was sich am Fenster abspielte. Niemand bat Boff, das grausame Spiel zu beenden.
»Ihr müsst keine Angst haben«, sagte Boff. »Der Raum ist voller Ärzte und Heiler. Ihr seid in den allerbesten Händen. Ich warte, aber ich warte nicht mehr lange.«
»Was wollt Ihr denn machen, wenn ich mich weigere?«
»Vier Männer halten Euch fest, einer schnürt Euch die Kehle zu, und wenn Ihr das Maul aufreißt, kippe ich die Pisse rein. Und nun los.«
Erst nippte er, aber er wusste, dass er damit sein Leid nur verlängern würde. So schloss er die Augen und leerte den Becher. Alle warteten, bis er geschluckt hatte.
»Und nun die Diagnose«, forderte Boff ihn auf.
Angstschweiß auf der Stirn, Grummeln im Magen, dann die Diagnose. Er betete alles herunter, was ihm einfiel. Boff schüttelte jedes Mal den Kopf, auch bei den Krankheiten, die sich tatsächlich durch Geruch und Farbe erkennen ließen.
Der Mann wurde immer verzweifelter und rief unglücklich: »Ja, was ist es denn, wenn es das alles nicht ist?«
»Hypochondrie.«
»Was?«
»Ich bin einer, der sich Krankheiten einbildet.«
»Ihr seid also … gesund?«
Blass und ohne Abschied verließ der Scharlatan mit unsicheren Schritten den Raum. Boff wandte sich den anderen Heilern zu und fragte: »Wer will als Nächster?«
»Das dürft Ihr nicht tun«, wehrte sich der mit den Tüchern.
»Ich kann und ich werde. Ich bin der Stadtphysicus. Den möchte ich sehen, der mir ins Gehege kommt. Welchen Körpersaft möchtet Ihr am liebsten prüfen?«
So leerte sich der Raum, endlich konnte man sich um Tänzer kümmern. Er war wie eine Puppe, eine schrecklich verängstigte Puppe.
Wünsch und Boff waren sich einig. Tänzer war ein lebender Toter. Er hatte alle Fähigkeiten verloren und bestand nur aus den Reaktionen eines Tiers. Streng genommen war er noch reduzierter, denn sein Körper spürte keinen Schmerz, und er hatte seine Vergangenheit verloren. Über fünfzig Jahre Erfahrungen, Erlebnisse, Bilder: nicht mehr vorhanden. Gelöscht wie das Bild, das der Künstler mit dem Tuch von der feuchten Leinwand wischt. Jetzt war die Leinwand leer.
Katarina Tänzer fanden sie im Garten. Sie behauptete, Pflanzen betrachtet zu haben. Aber sie hatte sich versteckt, war geflohen. Die Heiler waren nicht von ihr eingeladen worden, sie hatten Besitz von Tänzer ergriffen, mit der Durchsetzungsfähigkeit, die solchen Menschen eigen war.
Nachmittags kehrte ein verzauberter Rohwedder zurück. Er schien zu schweben, seine Redeweise war weicher als sonst. Der Mann wirkte, als habe er ein neues Leben begonnen.
»Was für eine Frau«, hauchte Rohwedder. »Sie hört leidenschaftlich gern zu. Alles, was ich gesagt habe, hat ihr Interesse gefunden. Und wenn ich mich etwas verloren habe in der ausführlichen Art, die man mir bisweilen vorwirft …«
»Ich zum Beispiel.«
»… selbst dann schaltet sie nicht ab. Sie sitzt da, lächelt mich an, manchmal legt sie ihre Hand auf meine, und ich empfinde nicht das Bedürfnis, meine Hand wegzuziehen.«
»Hast du nicht über deine bevorzugten Themen gesprochen? Und keins ausgelassen. All das, weshalb andere Frauen schon schreiend den Raum verließen?«
Die Fürstin musste eine hartgesottene Person sein. Oder sie war dermaßen ausgehungert nach menschlicher Zuwendung, dass sie selbst die grausigen Monologe des Gelehrten überstanden hatte.
»Nein, nein, sie war nicht nur höflich«, stellte Rohwedder klar. »Sie war aufrichtig
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