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Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Titel: Doctor Boff - Weiberkranckheiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Klugmann
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nicht zugänglich waren. Die Leber, der Darm, der Magen, das Herz und als Krönung: der Schädel mit dem Gehirn. Das Gehirn des kleinen Jungen hatte unter dem Aufprall auf das Pflaster gelitten. Er würde sich erholen oder sterben. Oder lebenslang unter Schmerzen im Kopf leiden. Die Ärzte konnten nichts tun, um ihm zu helfen. Einige hatten Löcher in den Schädel gebohrt und waren durch Ohren und Nase zu waghalsigen Expeditionen aufgebrochen. Immer gab es dabei neue Erkenntnisse. Aber sie nutzten nicht dem Körper, den der Arzt heute vor sich hatte, sondern Körpern, die in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren erkranken würden und noch gar nicht geboren waren.
    Mit diesen Gedanken, die seit langem seine Begleiter waren, erreichte er den Marktplatz und wurde vor seinem Haus von einer aufgeregten Frau in Empfang genommen, die er noch nie gesehen hatte.
    »Seid Ihr der Physicus? Ihr müsst sofort kommen! Doctor Tänzer ist aufgewacht!«
    Zwei Augen blickten ihn an. Es war, als würde ein Totenschädel wieder leben. Es war unfassbar, Doctor Boff hatte so etwas noch nie gesehen. Katarina Tänzer saß bei ihrem Mann und hielt seine Hände, die auf der Decke lagen.
    »Es ist ein Wunder«, sagte Katarina mit belegter Stimme.
    Dieser Satz wurde in der Welt oft ausgesprochen, meistens handelte es sich um eine heillose Übertreibung, die man nurdeshalb nicht richtigstellte, weil die mit Gefühlen angefüllte Lage es nicht zuließ. Aber dies war wirklich ein Wunder. Normal wäre es gewesen, wenn Tänzer heute gestorben wäre. Oder in einigen Tagen. Seit dem Anschlag befand er sich auf einem Weg, der pfeilgerade aus dem Leben herausführte. Die Augen ließen Boff nicht los. Tänzer und er hatten sich vorher nie getroffen, ein Wiedererkennen war also nicht möglich. Aber wie präsent war der Mann?
    Katarina half ihm aus der Verlegenheit: »Es ist eine Stunde her, oder etwas mehr. Er hat noch kein Wort gesprochen, aber ich bin sicher, dass er mich erkennt. Jetzt wird alles gut, Gott hat mir meinen lieben Mann zurückgegeben.«
    Boff trat ans Bett. Tänzer hatte eiskalte Hände und Füße, auch die Stirn war kalt. Die Augen verfolgten alles, was Boff tat. Boff ließ sich von Katarina eine Nadel geben und hielt sie so, dass Tänzer sie sah. Keine Reaktion. Katarina erkannte, was geschehen würde, und wollte es verhindern. Aber Boff stach in den Arm und beobachtete Tänzer dabei genau. Keine Reaktion. Er stach ein zweites Mal, das gleiche Ergebnis. Er sprach Tänzer an, einfache Fragen mit einfachen Worten. Der Mann im Bett verstand ihn nicht, die Augen, wiewohl geöffnet, waren tot.
    Er trat zu Katarina ans Fenster. Sie blickte hinaus und gegen das Fenster sagte sie: »Er wird nicht mehr gesund werden. Ihr müsst mich nicht schonen. Sagt mir, dass ich recht habe.«
    »Wir haben eine neue Situation. Wenn alles gut läuft, wird der Kreislauf in Schwung kommen. Wir wissen nicht, was durch das Erwachen alles wieder wach wird.«
    »An was denkt Ihr?«
    »An Hunger zuerst. Hunger und Durst. Bevor wir daran denken können, ihn zu heilen, müssen wir dafür sorgen, dass er lebendig bleibt.«
    »Habt Ihr Erfahrung?«
    »Ich rede offen mit Euch. Ich habe so etwas noch nie erlebt, ich habe von solchem Verlauf noch nie gehört. Ich werde sofortnachfragen, überall, nicht nur in Halle. Es werden Boten in alle Richtungen gehen.«
    »Was sieht er, wenn er mich ansieht? Kennt er mich? Erinnert er sich? Weiß er, dass ich so aussehe wie er auch aussieht?«
    »Eure Fragen sind sehr scharfsinnig. Wüsste ich die Antwort, wären wir ein Stück weiter. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen und annehmen, dass er das, was wir sehen, auch sieht. Ich will Euch nicht ängstigen, aber es ist möglich, dass in ihm eine große Verwunderung ist. Wenn der Weg von den Augen zum Verstand nicht frei ist, wissen wir, dass wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Er ist schwer misshandelt worden, andere Menschen sterben an solchen Verletzungen. Das wahre Wunder ist, dass Euer Mann noch am Leben ist.«
    »Leben nennt Ihr das?«
    »Es gibt Leben und es gibt den Tod. Ich kenne keinen Ausdruck für eine dritte Art der Existenz.«
    Lächelnd sagte sie, immer noch nach draußen blickend: »Passt auf, am Ende wird er doch noch eine Entdeckung gemacht haben, mit der ihm niemand zuvorgekommen ist. Er hat davon geträumt, einmal der Erste zu sein.«
    »Das tut jeder Arzt, auch wenn er es nicht zugibt.«
    Sie lehnte sich an ihn, ihr Kopf lag an seiner Schulter, sie war sehr

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