Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Doctor Boff - Weiberkranckheiten

Titel: Doctor Boff - Weiberkranckheiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Klugmann
Vom Netzwerk:
darüber nicht zum einseitig gebildeten Fachmann geworden war, der über nichts anderes als den Blutkreislauf zu reden vermochte.
    Nach einer Stunde riskierte es Boff, einen dringenden Patientenbesuch vorzuschieben. »Geht nur, geht nur«, sagte Rohwedder mit gönnerhafter Handbewegung, »wir kommen allein zurecht.«

20
    Am nächsten Morgen führte Boff der erste Weg in Rohwedders Zimmer. Es war leer, das Bett unbenutzt. Sein erster Gedanke lautete: Das ist gut. Aber er vergaß nicht, dass Rohwedder jederzeit für eine heillose Komplikation gut war.
    Auf dem eiligen Fußmarsch zum Ort eines Unfalls – eine Kutsche war umgestürzt und hatte Passanten umgerissen – kam Boff an der Druckerei Kammer vorbei. Im kleinen Schaufenster lag neben den ausgestellten Einbänden aus verschiedenen Lederarten ein Blatt Papier vor einem kleinen Format. Boff, der in Eile war, hatte das Fenster praktisch schon passiert, als er erstarrte und zurückkehrte.
    »Unser verehrter Stadtphysicus kauft dieses Leder am liebsten.«
    Boff war ein entscheidungsfreudiger Mann. Aber in diesem Fall brauchte er einen halben Tag, bevor er zu einer Meinung gelangte. Vorher wälzte er Fragen, auch in den Minuten, in denen er die auf dem Pflaster liegenden Verletzten versorgte und einen ebenfalls zur Hilfe herbeigeeilten Medicus namens Liebling kennenlernte.
    Er wollte den Drucker aufsuchen und darum bitten, das Papier aus dem Fenster zu entfernen. Nicht weil es falsche Tatsachen enthielt. Nicht weil Kammer schlechte Arbeit ablieferte, im Gegenteil. Boff wollte vermeiden, Partei zu werden. Er war nicht der Bischof und nicht der Bürgermeister, aber er bekleidete ein öffentliches Amt. Er wollte nicht über den Wassern schweben, aber sich aus dem täglichen Betrieb heraushalten. Wenn er Kammer gewähren ließ, würde der Weinhändler die Stadt davon in Kenntnis setzen, welcher Arzt für sein Leben gern Riesling trank; der Gemüsebauer aus dem Nachbardorfwürde auf dem Markt alle wissen lassen, dass seine Karotten, Zwiebeln und Kohlköpfe die besten waren, weil ein Arzt nicht irren konnte. Und dann war es nur eine Frage der Zeit, bis eine gewisse Hutmacherin ihren prächtigsten Hut dem verehrten Physicus widmen würde. Plötzlich hielt Boff es nicht mehr für eine gute Idee, sich einen Hut schenken zu lassen. Gleichzeitig wollte er nicht päpstlicher sein als der Papst. Er hatte keinen Vorteil daraus gezogen, jedenfalls keinen materiellen. Aber vielleicht war das nicht das Problem: Vielleicht war jetzt der letzte Zeitpunkt, um eine Lawine zu stoppen. Er konnte nicht in jedem Geschäft Kunde sein, irgendwer würde immer den Kürzeren ziehen und künftig wenig schmeichelhaft über den Physicus reden. Boff wollte nicht der Freund von 15.000 Einwohnern werden, aber er wollte auch nicht als naiv erscheinen.
    Er kehrte von dem Unfall zurück, bei dem sogar das Pferd ärztliche Hilfe erhalten hatte. Eine Frau hatte sich Knochen gebrochen, ihr achtjähriger Junge klagte über Kopfschmerzen, war äußerlich jedoch unversehrt. Das waren die Fälle, die Ärzte nicht mochten. Sie wussten, dass sich im Inneren des Körpers ungute Dinge abspielten, aber sie konnten nicht in den Körper hineinschauen. Von allen Bereichen, die ihnen unzugänglich waren, war der Schädel der verschlossenste. Boff kannte das Gehirn, er hatte es in den Händen gehalten. Aber nur bei Autopsien und als Folge grauenvoller Unfälle, bei denen Därme ausgetreten waren und alles, was unter der Haut war, dem Blick zugänglich geworden war. Die Haut war die Grenze, durch die Haut drangen nur die Chirurgen, aber wenn sie tätig wurden, war der Patient schon so gut wie tot. Es gab Mediziner, die stets den Fortschritt der Medizin herausstellten. Sie verglichen die Möglichkeiten der Ärzte mit den Möglichkeiten vor zweihundert Jahren, vor fünfhundert Jahren, in der Antike. Seit diesen Zeiten war vieles besser geworden, Menschen konnten geheilt oder ihr Befinden verbessert werden. Aber damals wie heutegab es Zustände und Symptome, bei denen jeder seriöse Arzt wusste: Es ist vorbei, dieser Mensch wird sterben. Sie trompeteten ihre Ohnmacht nicht heraus und versuchten alles, bis zur letzten Minute. Wenn es dann vorbei war, wirkten sie jedes Mal aufrichtig erschüttert. Sie spielten den Menschen eine Komödie vor. Untereinander redeten sie nicht so oft darüber, wie man vermuten könnte. Was jedem bekannt war, musste nicht noch in Worte gefasst werden.
    Es gab Organe, die dem Zugriff der Augen

Weitere Kostenlose Bücher