Doctor Boff - Weiberkranckheiten
Tänzers Tod verantwortlich war. Er hatte davon gesprochen, dass die Sache »abgeschlossen« werden musste. Es klang hohl und selbstgerecht, als er seine Worte hörte. Aber ohne Klarheit über Hoppes Rolle in dem Fall wäre alles sinnlos gewesen. Der überführte Täter Hoppe machte den alten Stadtarzt nicht wieder lebendig, aber das Bewusstsein eines irgendwo lebenden Hoppe hätte Boff unbefriedigt zurückgelassen. Die Welt war voller halb gelöster Rätsel und abgebrochener Ermittlungen. Viele Verfahren vor den Gerichten verliefen im Sande, weil ein Geständnis fehlte, die Zeugen wirres Zeug redeten oder sich Hinweise auf den Ablauf des Verbrechens als fadenscheinig erwiesen. Im Grunde war es diese Tatsache, die Boff überzeugt hatte, das Richtige zu tun: Alle Unklarheiten waren beseitigt, es gab ein Opfer und einen Täter, und der Täter besaß Gründe, die er selbst genannt hatte und die von Außenstehenden nachvollzogen werden konnten.Alle Rätsel waren gelöst. Albrecht Boff war nicht sicher, ob es Gerechtigkeit tatsächlich gab. Aber er war sicher, dass der heute Abend erreichte Stand der Ereignisse dem Begriff Gerechtigkeit sehr nahe kam.
30
Der Stadtphysicus begann den neuen Tag mit der Erkenntnis, dass der Fall des Roderich Hoppe abgeschlossen war. Ein guter Mann und Arzt war einen sinnlosen Tod gestorben, seine Frau hatte das Liebste verloren, Roderich Hoppe hatte seine Frau verloren, und bald würde er sein Leben verlieren. Sollte alles in unfassbarer Weise zu seinen Gunsten verlaufen, wäre theoretisch auch eine Haftstrafe möglich. Aber sie würde streng ausfallen, lebenslang, und nach dem ersten Jahr würde er sich wünschen, dass der Tod schnell kommen möge. Im Zuchthaus von Halle wurde nicht gefoltert, aber die Strafen wurden streng vollzogen, Pardon wurde nicht gegeben, Erleichterungen in der Haft waren nicht vorgesehen. Wer hier einsaß, führte das Leben eines Toten, der noch Stoffwechsel hatte.
Unter den Patientinnen waren Hoppe und sein Mordversuch an einer Leiche das Gespräch des Tages. Als sie kamen, war eine von zehn informiert; als sie gingen, alle. Viele wussten Dinge, die sie nicht in der Praxis erfahren hatten. Man konnte zusehen, wie das Wissen von Minute zu Minute zunahm. Morgens war Hoppe noch ein bedauernswerter Mann gewesen, mittags war er ein Raubtier, abends eine feindliche Armee.
Doctor Boff bekam das nicht mit, denn in jeder ruhigen Minute verließ er die Praxis und stieg die Treppen hinauf. Zuerst sprach er mit dem alten Fischerpaar in der dritten Etage. Sie präsentierten ihm ihren Sohn, den verwirrten Mann mit dem Gemüt eines Kindes und dem Verstand eines Kindes. Boff sah sich den Mann an und fand ihn gesund – abgesehen davon, dass er ein Idiot war. Die Eltern waren zufrieden, mehr konnten sie nicht erwarten. Ihre Lebensklugheit und Elternliebe waren nicht durch schlechte Nachrichten zu erschüttern. Boff suchtenoch nach den richtigen Worten, als der Fischer ihm zuvorkam. Er klopfte seine Pfeife auf dem Tisch aus, schob den ranzigen Tabak in die Handfläche, sah sich um, und die Hände waren leer, ohne dass Boff gesehen hätte, wohin er den Tabak geschüttet hatte. Er sah auch nicht, dass der Fischer ihn zu Boden fallen ließ. Der Tabak löste sich einfach auf, eben war er noch da, im nächsten Moment war er verschwunden. Das wiederholte sich viermal, Boff konnte sich nur mühsam auf das Gespräch konzentrieren, aber er kam dem Trick nicht auf die Schliche. Einmal tat er so, als würde ihm sein Tuch zu Boden fallen. Er blickte unter den Tisch, tastete herum und sah nichts außer den nackten Zehen des Fischers und einem enormen Ballen, der in keinen Schuh passte.
»Gut, dass Ihr es ansprecht«, sagte der Fischer zu einem Zeitpunkt, als Boff noch nichts angesprochen hatte. Als Boff die Wohnung verließ, standen sie zu dritt in der Tür und winkten ihm hinterher.
Rosanna Lantzmann besuchte er in ihrer Eigenschaft als umtriebige und neugierige Person. Er hätte darauf gefasst sein müssen, umgehend als Hutmodell benutzt zu werden.
»Ihr habt den Kopf dafür«, behauptete sie, während sich der Doctor still genierte. Er sollte sagen, wie sich die neuen Modelle anfühlten – zu groß, zu steif, zu festlich. Er hatte auf alle Fragen nur eine Antwort: zu viel Hut an sich. Aber das verschwieg er ihr. Rosanna schickte ihn zum Künstler und riet ihm, zehnmal zu klopfen und nicht aufzugeben, vorher würde er nicht reagieren. Rosanna tat so, als habe sie darin Erfahrung.
Im
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